Wege zur sängerischen Atemstütze


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Christian Dillig: Wege zur sängerischen Atemstütze

 

 Einleitende Gedanken

Die so genannte Atemstütze (das üblicherweise gebrauchte Wort für die Atembalance), d. h. die Kontrolle über den Atem zum Zweck eines guten, schönen und leichten Singens ist ein Thema, das mich bei meiner beruflichen Tätigkeit als Sänger, als Gesangslehrer und als hauptberuflicher Chorleiter auf Schritt und Tritt verfolgt und begleitet. Das Thema fasziniert mich seit meinem ersten Gesangsunterricht vor mehr als zwei Jahrzehnten.

Im Laufe der Zeit habe ich von Lehrern und Kollegen sehr unterschiedliche Ansichten dazu gehört und in diversen Büchern und Zeitschriften auch immer wieder abweichende und zum Teil auch konträre Meinungen darüber gelesen. Dabei wurden manche Aspekte des Stützens von den einen oder den anderen als das Allheilmittel angepriesen und manche andere Wege durchaus radikal und polemisch verworfen. Diejenigen, die polemisieren, haben wohl ihren Weg zum Singen gefunden. Dieser Weg wird bei ihnen wahrscheinlich auch funktionieren (vielleicht auch nur zeitweise?). Jedoch ist nicht übersehbar, dass offenbar auch von den einen verworfene Wege für andere in einer Weise gangbar sind, dass das Ziel im Hinblick darauf, was sie erreichen wollen, durchaus befriedigend ist.

Aber man hört auch von guten SängerInnen, dass ihre Stimme nicht lange durchgehalten hat und dass sie diese manchmal während ihrer Karriere förmlich ruiniert haben. Haben jene SängerInnen vielleicht den an sie gestellten Anforderungen entsprechend nicht ideal gestützt? Wer als Sänger, Chorist oder Gesangsschüler selbst noch nicht sattelfest ist, hat dabei oft keine ausreichende Möglichkeit zu beurteilen, ob eine zum Stützen vertretene Meinung richtig oder falsch ist oder besser gesagt für seinen eigenen Weg günstige oder ungünstige Auswirkungen hat.

Die vorliegende Arbeit dient zunächst einmal dazu, mir selbst die Zusammenhänge möglichst systematisch klar zu machen und daraus Gewinn für mein eigenes Singen zu ziehen. Darüber hinaus interessiert mich besonders, wie ich Gesangsschüler und Chorsänger an eine gute Atemstütze heranführen kann. Die Arbeit befindet sich in einem wachsenden Zustand („work in progress“).

Hauptberuflich bin ich Chordirigent. Ich habe bisher viele unterschiedliche Chöre geleitet und zum Teil auch von Anfang an aufgebaut. Immer stehe ich auch hier vor der Frage, wie ich die SängerInnen suggestiv wie informativ dazu bewegen kann, gestützte Töne zu singen. Da sich das, was ich vorne vorlebe, beim Dirigieren wenigstens zu einem gewissen Maß und abhängig vom Ausbildungsstand der SängerInnen auf den Chor überträgt, habe ich längst festgestellt, dass unterschiedliche Vorstellungen zum Stützen auch einen anderen Sound beim Chor hervorrufen können. So erzeugt der Gedanke geöffneter Weite sofort einen anderen Klang als etwa die Vorstellung aktiver Dehnung in den Seiten usw.

Wie also schafft man es, seinen eigenen Atem oder in der Arbeit mit dem Chor den Atem der SängerInnen suggestiv so zu führen, dass am Schluss ein befriedigendes musikalisches und klangliches Resultat steht? Wie kann man das selbst lernen und wie vermitteln?

Nicht jeder Sänger wird mit allem hier Geschriebenen einverstanden sein. Dass es über die von mir in der vorliegenden Arbeit dargestellten Ideen hinaus noch viele weitere gibt, auf die ich hier nicht eingehe und die ich zum Teil vielleicht noch nicht einmal kenne, ist mir völlig klar. Auch habe ich Übungen nur sehr sporadisch aufgeschrieben. Ich habe noch vor, sie zu sammeln. Weitere Wege und Zugänge zu einem gestützten Singen mit den damit verbundenen unterschiedlichen klanglichen Nuancen zu finden, bleibt wohl ein fortwährend spannender Prozess.

Dabei geht es mir nicht vorderhand darum, eine exakte medizinische Beschreibung der Stütze mit einer genauen Auflistung der beteiligten Muskeln und ihrer Funktion zu liefern. Oft ist zu lesen, dass am Vorgang des Stützens zahlreiche Muskeln beteiligt sind und es schwierig sei, die einzelnen Muskeln dabei zu separieren. Ich gebe mich also hier damit zufrieden, dass die Atemstütze das Resulat einer kombinierten muskulären Tätigkeit ist. Viele Beschreibungen auch großer Sängerpersönlichkeiten zu diesem Thema sind ohnehin äußerst subjektiv gefärbt und haben mit den realen medizinischen Abläufen nicht immer direkt etwas zu tun. Dennoch hat ihr Statement durch die ausgelösten Assoziation schon vielen beim Singen weitergeholfen.

Noch ein Wort zu den beschriebenen Übungen und Aspekten des Stützens und zu den Sängerzitaten: Es ist in vielen Fällen schlicht nicht nachvollziehbar, wer eine Übung erfunden hat oder einen Vorgang erstmals beschrieben hat. Es ist daher müßig, nach den Quellen zu suchen. Vieles ist Allgemeingut. Im einen oder anderen Fall ist manches vielleicht sogar nur mündlich tradiert und nirgendwo schriftlich fixiert: Und wenn es denn schriftlich fixiert sein sollte, ist dadurch noch lange nicht klar, ob es sich beim Autor auch um den Urheber der Übung oder den erstmaligen Beschreiber des besagten Vorgangs handelt.

Bei meiner Suche nach Aussagen auch berühmter Sängerinnen und Sänger über das Stützen stieß ich in Schriften und im Internet auf viele Zitate ohne Quellenangaben, und so ist es im einen oder im anderen Fall nicht sicher, ob ein entsprechendes Zitat tatsächlich authentisch ist oder einer SängerInnengröße nur in den Mund gelegt wurde. Dennoch erfüllen die Zitate, selbst wären sie nur gut erfunden, ihren Zweck, da sie repräsentative Haltungen zum Ausdruck bringen.

Der Arbeit wird kein Nachwort folgen. Denn es handelt sich nicht um stringente Schlussfolgerung, an deren Ende ein sicheres Ergebnis steht, sondern um eine Sammlung von Erkenntnissen zum gestellten Thema im Fluss, die Perspektiven aufzeigen soll und die im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut werden kann. Wenn ich auch nicht gänzlich darauf verzichte, so bin ich doch zurückhaltend mit Wertungen. Zu leicht könnte es sein, dass ich noch mögliche Wege übersehen habe und mir durch eine frühzeitige Wertung Wege verbaue.

 

  1. Wozu Atemstütze?

Die so genannte Atemstütze ist unbestritten eine unabdingbare Notwendigkeit beim Singen. Ohne sie ist keine brauchbare Tonproduktion möglich. Sie ist aber umgekehrt auch kein Selbstzweck, sondern ein dienendes Prinzip. Immer soll sie uns in die Lage versetzen, genau die Töne, Phrasen und Melodien in einer Weise singen zu können, wie wir sie musikalisch beabsichtigen. Sie ist also eine technische Hilfe.

Was aber hat man sich darunter genau vorzustellen? In vielen Artikeln und auch bei Wikipedia wird als Antwort darauf ein Zitat von Fritz Wilhelm Winckel, einem österreichischen Akustiker und Pionier der elektronischen Musik, angeführt. Winckel definiert die Atemstütze so: „Stütze ist der Halt, den die Einatmungsmuskulatur dem Zusammensinken des Atembehälters entgegensetzt. Die Stütze dient dazu, den zur Phonation notwendigen subglottischen Druck auf den kritischen Druck (optimaler Betriebsdruck) zu reduzieren.“[1] D. h. der von unten auf die Stimmbänder einwirkende Ausatmungsdruck muss in einer Weise reduziert werden, dass die Stimmbänder in der Lage sind, im Hinblick auf einen erwünschten Klang in optimaler Weise zu schwingen. Die Instanz, die dies leisten kann, ist die Einatmungsmuskulatur. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Luft aus dem Körper viel zu schnell entweichen würde und nicht ideal in schwingenden Ton umgesetzt werden könnte, wenn man den Atem bei offener Kehle nicht mithilfe der Einatmungsmuskulatur kontrollieren würde.

Man muss keine Gesangsausbildung gemacht haben, um sich überhaupt einen Begriff davon machen und nachempfinden zu können, was der Begriff Atemstütze bedeutet. Denn jeder Mensch, der sprechen kann, kontrolliert in der ein oder anderen Weise zumeist unbewusst das Ausatmen, um überhaupt mit Lautstärke und auf einen Atem länger sprechen zu können. Die Frage, ob dies nicht noch sehr verbessert werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Atemstütze ist also ein zentraler Aspekt der Lautgebung. Singen und Sprechen sind nur zwei Ausdrucksformen davon. Ohne jegliche Form der Atemstütze wäre auch beim Sprechen maximal eine Tonproktion von der Länge eines Seufzers, bei der auf einen Schlag alle Luft entweicht, möglich.

Dass eine gewisse Form der Atemstütze – und zwar eine gute – bereits angeboren ist, dokumentiert eindrücklich der Umstand, dass ein Säugling direkt nach der Geburt in der Lage ist, lange laut zu schreien, ohne heiser zu werden. D.h. die Anlage zur gestützten Lautgebung ist in uns allen bereits natürlich verankert. Negativ betrachtet heißt dies: Dass Menschen später viel weniger und laut singen können und dabei sehr viel schneller ermüden als ein Säugling, belegt eindrucksvoll, dass man einen oder mehrere angeborene günstige Wege des Stützens offenbar verlernen kann. Positiv bedeutet dies: Jedem gesunden Menschen sind die Anlagen zum gestützten Singen von Natur aus mitgegeben, und jeder kann sie im Prinzip ausbauen.

Der Fragenkomplex der richtigen Atemstütze betrifft übrigens nicht nur das Sprechen und Singen, sondern überhaupt jede Tonproduktion mittels durch Luft ausgelöster Schwingung, also auch das Spielen von Blasinstrumenten. Auch dieser Komplex erlaubt uns einen Einblick in die Notwendigkeit des kontrollierten Stützens von Tönen. Selbst wer kein Blasinstrument erlernt hat, kann sich leicht einen Begriff davon machen, was richtiges Stützen bedeutet und bewirkt, wenn er nur einmal in eine Flöte oder in eine Flasche geblasen hat mit dem Ziel, einen gleichbleibenden Ton zu produzieren: In beiden Fällen hat man, wenn der Luftdruck zu hoch ist, das jeweilige Instrument schnell überblasen, sodass kein gleichbleibender Ton zustande kommt. Man muss also  irgendwelche Kräfte aufwenden, die die Luft gleichmäßig zurückhalten.

Diese Kräfte liegen in den für die Einatmung notwendigen Muskeln. Nur ein durch die Einatmungsmuskulatur dosierter Atemdruck kann hier wie dort die Produktion eines tragenden Tones bewirken. Wer also auf einer Flöte, einem sonstigen Blasinstrument oder einer Flasche einen tragfähigen Ton produzieren will, wird nahezu automatisch versuchen, seinen Atem so kontrolliert abzugeben, dass tatsächlich ein gleichbleibender Ton entsteht.

Der Prozess ist also eigentlich leicht zu verstehen, aber wird er auch mit dem Begriff Atemstütze treffend beschrieben? Viele Gesangspädagogen stören sich – m. E. zu Recht – an dem deutschen Begriff „Stützen“, weil Stütze etwas Statisches suggeriert. Obwohl auch andere Begriffe dafür vorgeschlagen wurden, die den Prozess besser beschreiben wie Atemrückhaltekraft, Atembalance oder Atem-Stimm-Kopplung usw., hat man noch auf keinen anderen Begriff einigen können, der den Vorgang besser und für alle akzeptabel beschreibt. Es wird wohl noch eine Weile dabei bleiben, dass der Begriff Atemstütze zur Beschreibung des Prozesses der vorherrschende bleibt.

Viele nehmen Zuflucht zur italienischen Bezeichnung: Der italienische Begriff appogigare la voce für das deutsche Wort Atemstütze hat zwar die gleiche Grundbedeutung: nämlich „die Stimme stützen“, aber in einer Nebenbedeutung auch: „die Stimme anlehnen“. Dies wird gedeutet, dass man sich mit dem Atem in den Körper lehnt. Mit dieser Nebenbedeutung lässt sich in jedem Fall eine bessere Korrelation von dem Stützprozess als solchem und der Führung der Töne durch den Atem ausdrücken. Der italienische Begriff ist also weiter gefasst. Aber auch er beschreibt nicht umfassend das wirkliche Phänomen, und auch er begünstigt noch die Vorstellung von etwas Statischem.

Eine gute Atemstütze ist aber kein statischer Zustand, sondern ein ins Singen durch und durch verwobener Prozess, dessen Qualität in jedem Sekundenbruchteil vom gewünschten Klang abhängig ist. Mit anderen Worten: Um die Qualität einer Tonproduktion aufrecht zu erhalten, muss sich die Qualität der Stütze permanent den Bedürfnissen des Singens anpassen. D. h. das Stützgefühl ändert sich zwar nicht prinzipiell, aber qualitativ, ob wir gerade mit der Tonproduktion erst beginnen, mit Singen unterwegs sind oder mit einer Phrase aufhören wollen.

Die Winckel’sche Minimaldefinition des Stützens als ein bloßes Offenhalten der Einatmungsmuskulatur zum Herstellen eines idealen Betriebsdrucks bei der Phonation deutet bereits an, wie sehr die Atemstütze mit den anderen Bereichen des Singens verbunden ist und wie wenig die Frage, wie man zu einer guten Atemstütze gelangt, von den anderen Bereichen getrennt werden kann. Denn wann ist beispielsweise der Betriebsdruck optimal? Kann man hierfür einen genauen Wert angeben? Nein, denn er ist abhängig von Größen wie Stimmbandschluss und Resonanzgebung.

Wie wenig der dosierte Atem und damit der jeweils optimale Betriebsdurck Selbstzweck und vielmehr erst in Abhängigkeit von der Resonanzgebung zu sehen ist, lässt sich gut an dem Blasen auf Mundstücken von Blasinstrumenten demonstrieren. Zwar ist es möglich,Töne auf dem bloßen Mundstück eines Blechblasinstrumentes zu erzeugen. Diese klingen jedoch zunächst einmal farblos und eng. Erst wenn das Mundstück mit einem Blechblasinstrument verbunden wird, kann der Klang mit Hilfe des instrumentalen Resonanzkörpers die engen Töne des Mundstücksblasens zu einem wunderbaren tragenden Klang entfalten. Dabei ist leicht nachzuvollziehen, dass der Aufwand ein anderer ist, ob das Mundstück mit einer kleine Bachtrompete oder eine großen Tuba verbunden wird. Um die den Instrumenten innewohnenden Resonanzen ideal hervorzulocken, erfordert es einen anderen Aufwand beim Blasen und damit auch eine andere Kontrolle der Einatmungsmuskulatur, die die Stütze bewirkt.

Das Gleiche gilt auch für den Gesang. Auch wenn die Prinzipien des Stützens die gleichen bleiben: Ohne Wertung gesprochen ist der Aufwand beim Stützen ein ganz anderer, wenn ein leichter Barocksopran schwebende Töne produziert, eine leichte Mikrophon-Popstimme feine Töne emotional koloriert oder wenn ein voluminöser russischer schwarzer Bass eine spätromantische Opernarie schmettert. Jeweils ist ein qualitativ anderer Zugriff auf die Atemstütze erforderlich, um den unterschiedlichen klanglichen Erfordernissen gerecht zu werden.

Auch die Art des Stimmbandschluss ändert sofort die Anforderungen an die Stützmuskulatur. Das Beispiel eines Luftballons, dessen Luft man aus der Öffnung entweichen lässt, kann hier ein gutes Bild zur Verdeutlichung sein. Verliert der Luftballon durch eine bloße Öffnung des Verschlusses sein Luft, so entsteht ein leises, eher weicheres, fülligeres Geräusch, ev. auch ein Ton. Zieht man aber die Öffnung eines offenen mit Luft gefüllten Luftballons auseinander, wird der Ton laut bis penetrant.

Eine ähnliche Spannbreite, Töne zu erzeugen und zu färben, haben wir auch beim Singen – unabhängig betrachtet von der Resonanzgebung: Ein fülliger und weicher Klang wird leichter durch eine offene Kehle erzeugt. Hiermit lassen sich oft besser die fülligen Körperresonanzen holen. Freilich gibt es auch ein Zuviel davon. Wenn die Stimmbänder zu offen sind, kommt es zu einem verhauchten bis zu gar keinem von den Stimmbändern generierten Ton. Verhauchtes Singen ist für die Stimmbänder auf Dauer schädlich.

Ein engerer Stimmbandschluss wäre vergleichbar mit dem Blasen durch das Mundstück eines Blechblasinstrumentes. Erst die Bündelung der Luft im engen Mundstück kann die brillanten Resonanzen aus den Blechblasinstrumenten locken. Brillanz lässt sich also auch beim Singen leichter durch einen engeren Stimmbandschluss erreichen, aber zu Lasten von Weichheit und nichtkerniger Fülle. Je nach gewünschter Resonanz kann der Stimmbandschluss also offener oder geschlossener sein und sich je nach gewünschter Farbe beim Singen auch flexibel handhaben lassen. Jedoch hüte man sich auch vor einem zu engen Stimmbandschluss, der in übermäßiges Drücken der Luft von unten gegen die schließenden Stimmbänder mündet. Auch dadurch sind durch die dauerhafte Überforderung der Stimmbänder leicht einsehbar Stimmschäden möglich. Es wäre dies eine denkbar ungünstige Methode, den Atem zu dosieren und zu stützen versuchen.

Nach solchen grundlegenden Gedanken zur Atemstütze möchte ich die Aspekte zusammenfassen, die die wir als Singende von einer guten Atemstütze erwarten.

Die Atemstütze soll so beschaffen sein,

  1. dass durch sie frei schwingende und tendenziell auch das Vibrato der Stimme zulassende Töne ermöglich werden können,
  2. dass Töne und Phrasen von Anfang bis zum Schluss mit einer gleichbleibenden Qualität gesungen werden können (wozu auch gehört, dass Töne sofort gut ansprechen),
  3. dass Töne und Phrasen mit unterschiedlicher Dynamik gesungen werden können und dass sie eine große Flexibilität im Bereich Dynamikänderungen erlauben,
  4. dass Töne abhängig auch vom Stimmbandschluss und der Resonanzgebung mit unterschiedlicher Farbe gesungen werden können (wozu auch gehört, dass sie tragfähig sind),
  5. dass sie den Stimmapparat bei allen stimmlichen Anforderungen gesund erhält und weder kurzfristig noch langfristig überlastet

 

 

  1. Kann und soll man Stützen aktiv lernen und lehren?

 

Bevor ich mich dem Versuch einer Antwort, wie man ein gutes Stützen nach den gerade aufgezählten Anforderungen erreicht, möchte ich noch auf eine Diskussion unter Sängern und Gesangspädagogen verweisen. Es wir nämlich darüber gestritten, inwiefern man die Vermittlung des Stützens lehren soll oder ob die Stütze nicht ein sekundäres Phänomen ist, dass sich durch Konzentration auf andere Körperprozesse wie Kehlweite oder als Folge einer Arbeit an musikalischen und klanglichen Vorstellungen bei den Schülern immer mehr von selbst einstellt.

Ivan Konsulov, ein Bariton mit jahrzehntelanger Opernkarriere, der in bedeutenden Opernhäusern der Welt gesungen hat und mit Sängergrößen wir Pavarotti, Domingo und Freni usw. auf der Bühne stand, sagte mir, er habe bei der Begegnung mit den genannten und weiteren Operngrößen auf der Bühne oft die Chance genutzt, sie nach ihrer Technik und ihrer Einstellung zum Stützen zu befragen. Konsulov zufolge habe dabei bei den großen SängerInnen mehr oder minder ein Konsens darüber bestanden, dass man das Stützen nicht aktiv lernt oder lehren solle, sondern dass sich die Sängerstütze als Resultat der Arbeit an einer stets frei schwingenden Kehle und klanglicher Vorstellungen im Laufe der Übung von selber einstelle. Es gebe sechs bis acht verschiedene Stützformen, und es sei von vorn herein nicht zu sagen sei, welche Stützformen ein übender Gesangsschüler ausbilden werde. Lenke man von vornherein das Stützen in eine gewisse Richtung, könne es passieren, dass der jeweils individuell sinnvollste Weg zum Stützen den Schülern verbaut werde.

Eine ähnliche Haltung fand ich in einem Brief Enrico Carusos an seinen HNO-Artz Dr. Mario Marafioti dokumentiert: „Die Atemtechnik ist ein unabdingbarer Faktor in der Tonproduktion. Die Atemstütze wird heutzutage als wichtigste treibende Kraft beim Singen und bei der Stimmbildung gelehrt. Das Appoggio (die Atemstütze d. A.) ist aber keinesfalls die treibende Kraft beim Singen. Im Gegenteil, funktional richtiges Singen mit richtigem Stimmsitz bringt die richtige Atemstütze hervor. Mein Grundsatz ist daher, dass der richtige Stimmsitz beim Singen die richtige Atemstütze hervorbringt und nicht umgekehrt. Die Atemstütze hingegen kann kein richtiges Singen hervorbringen“[2].

Barbara Böhi, erfahrene Oratoriensängerin, Gesangslehrerin und Stimmtherapeutin,

gibt demgegenüber und sicher stellvertretend für viele Gesangslehrer und Stimmärtze, die mit SängerInnen mit Stimmerkrankungen arbeiten, zu bedenken, dass die besagten Sangesgrößen vielleicht über ein gutes sängerisches Naturpotential verfügen oder verfügt haben. Die Erfahrung aus ihrer stimmtherapeutischen Praxis zeige freilich, dass die männliche Stimme sehr viel robuster sei als die weibliche. Von 20 Stimmpatienten seien 19 Frauen. Sie und viele weitere Gesangspädagogen raten daher dazu, dass der Stützvorgang von Anfang an behutsam aufgebaut werden soll, und dass den werdenden SängerInnen Wege an die Hand gegeben werden sollten, wie sie zu einem stimmlich gesunden Singen finden können. Viele Stimmfehler könnten verhindert werden, wenn den SängerInnen von Anfang an Angebote gemacht würden, wie Töne zu stützen seien.

  1. Wege zur Stütze

 

Ein Begriff für Stütze, der den Sachverhalt wie gesagt besser beschreibt, ist Atembalance. Er bringt zum Ausdruck, dass etwas Balanciert werden soll. Der Stimmarzt Aribert Stampa beschreibt es so: „Stütze ist das Schweben zwischen Ein- und Ausatmung.“ Das Schweben zwischen Ein- und Ausatmung erlaubt es uns also die Tongebung auszubalancieren. Aber bevor es hier überhaupt etwas zu dosieren gibt, haben wir zu fragen, wie man zu diesem Zweck am günstigen atmen soll. Das richtige Einatmen ist eine fundamentale Voraussetzung für den Aufbau einer guten Atemstütze.

 

 

  1. 1. Günstiges Atmen als wichtigste Voraussetzung für eine gute Atembalance

 

3.1.1. Welche Form der Atmung ist günstig für den Aufbau der Atemstütze?

 

Das führt uns zu einer prinzipiellen Frage: Wie funktioniert die Atmung überhaupt? Damit ist nicht nach der Erklärung der chemischen Prozesse, sondern der physikalische Ablauf gefragt.

Falsch ist die verbreitete populäre Ansicht, wonach die Lungen die Luft ansaugen und wieder abgeben. Richtig ist vielmehr, dass die Brust-, Rippen-, Rücken- und Flankenmuskeln das Ein- und Ausatmen bewirken, wobei die muskulären Aktivitäten vor allem permanent unbewusst über das vegetative Nervensystem gesteuert werden, solange man nicht bewusst in diesen Prozess eingreift. Aber selbst wenn man dies tut, lässt sich der natürliche Atemvorgang nur bis zu einem gewissen Maß bewusst beeinflussen. Das vegetative Nervensystem wird gegen die Steuerung des Atems durch den Willen jederzeit versuchen, dem Körper genügend Sauerstoff zuzuführen, und setzt der willentlichen Beeinflussung des Atems dadurch natürliche Grenzen. Auch ist die Länge und Menge des Ein- und Ausatmens nicht beliebig steigerbar, sondern unterliegt den Vorgaben des Körpers.

Macht man sich dies klar und geht davon aus, dass die Stützung der Töne zum Zweck einer gleichmäßigen Schwingung der Stimmbänder von Natur aus noch nicht automatisch angelegt ist, wenn auch (wie oben mit Verweis auf das Schreien der Säuglinge gesagt) die Anlage zum Stützen angeboren sind, so steht man vor der Frage, wie weit man beim Erlernen der Atemstütze mit der Natur gehen und wieweit man künstlich in den natürlichen Prozess eingreifen oder sogar ganz gegen die natürlichen Abläufe zuwiderhandeln soll.

Allein diese Überlegung deutet meines Erachtens darauf hin, dass das Stützen der Töne dann am Günstigsten ist, wenn man es schafft, bei der Atemstütze in der Regel so weit als nur irgend möglich natürliche körperliche Prozesse auszunutzen. Der Körper wird beim Singen weniger ermüden, und es kommt diese Forderung auch der Erwartung an den musikalischen Gesang am nächsten, durch natürliche Emotionen zu berühren. Zwar kann es im Einzelfall sehr angebracht sein, einen besonderen Affekt durch einen großen Eingriff in die Natürlichkeit der Atemprozesse hervorzurufen. Dennoch dürfte aber in der Regel gelten: Je künstlicher der Atem geführt wird, desto schwieriger dürfte es sein, dauerhaft ehrliche Emotionen beim Singen zu transportieren. Diese Überlegung werde ich bei der weiteren Ausführung im Hinterkopf behalten.

Wenn aber nicht die Lungen die Atmung bewirken, sondern die genannten Muskelgruppen, wie hat man sich dann den Atmungsprozess technisch vorzustellen? Im Prinzip verläuft die Atmung nach dem Prinzip eines Blasebalgs. Der Atemraum in der Brust ist außer zum Rachen hin nach allen Seiten durch Gewebe ver- und dadurch luftdicht abgeschlossen. In diesem Atemraum liegen die zwei Lungenflügel passiv gleichsam zwei leeren Gummibeuteln. Wird der Atemraum nun durch eine muskuläre Aktion in irgendeiner Weise vergrößert, entsteht in ihm ein Unterdruck, der das Ansaugen der Luft durch die Nase oder den Mund hervorruft. Die angesaugte Luft wird in den beiden Lungenflügeln aufgefangen, die durch diesen Prozess passiv aufgeblasen werden.

Löst sich die Muskulatur, die zuvor die Weitung des Atemraums bewirkt hat oder aber werden Muskeln und Muskelgruppen gezielt dazu eingesetzt, den Atemraum wieder zu verkleinern, verschwindet der Unterdruck im Brustraum und die Luft strömt wieder aus den Lungen und entweicht durch Mund oder Nase aus dem Körper. Der beschriebene Prozess wird vom vegetativen Nervensystem als eine ständiges Hin und Her aufrecht erhalten, ohne dass wir uns dies bewusst machen müssten.

Ist mit der Beschreibung dieses Vorgangs nun automatisch auch schon bestimmt, wie das Erzeugen des Unterdrucks im Atemraum des Brustkorbs erzeugt wird? Nein, denn grundsätzlich stehen dem Menschen dazu zwei grob voneinander unterscheidbare Wege zur Verfügung: Er kann zur Vergrößerung des Atemraums seinen Brustraum dehnen und dadurch den Unterdruck bewirken. Diese Form der Atmung wird oft mit den Fachbegriffen Kostalatmung oder Thorakialatmung oder im Volksmund einfach mit dem Begriff Hochatmung beschrieben.

Bei der alternativen Atmungsform, der wissenschaftlich so bezeichneten Abdominalatmung, wird das Zwerchfell, dass als Membran am unteren Ende des Brustkorbs nach allen Seiten verwachsen ist wie ein Kolben auf und ab bewegt. Durch dieses Auf- und Abbewegen wird der Unterdruck erzeugt und wieder aufgegeben. Das Absenken des Zwerchfells kann durch die untere Bauch-, die Rücken-, die Flanken- und die Beckenmuskulatur gesteuert werden. Es ist bei dieser Form der Atmung daher auch oft von Zwerchfell-, Bauch-, Rücken-, Flanken- oder seltener auch von Beckenatmung die Rede.

            Welche der beiden Atmungsformen ist für das Singen die günstigere? Vergleicht man den Nutzen der Tiefatmung mit dem der Hochatmung, so kann überhaupt keine Diskussion darüber geführt werden, welche Form der Atmung beim Singen vorzuziehen ist. Allenfalls kann man darüber diskutieren, ob und inwieweit auch einer Kombination von beiden Atmungsformen Vorteile fürs Singen abzugewinnen sind (s. u.).

Ein Vergleich des Nutzens von Hoch- und Tiefatmung zeigt:

  1. Die Hochatmung erfordert allein schon durch den mit ihr verbundenen größeren Muskelaufwand viel mehr Energie als die Tiefatmung, bei der nur ein kleinerer Anteil an Muskulatur in Bewegung ist. Die Hochatmung ermüdet also bereits durch ihren großen Muskelaufwand viel schneller als die Tiefatmung.
  2. Die Hochatmung erlaubt darüber hinaus nicht die gleiche Atemmenge, was zu einer verminderten Sauerstoffzufuhr führt. Auch dies ermüdet noch einmal und bewirkt, dass weniger Stress abgebaut werden kann. Eine gute Luftzirkulation, die durch die Tiefatmung besser erreicht werden kann, beruhigt und entspannt. Atemschulungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit legen von daher schon ihren Fokus auf die Tiefatmung.
  3. Die Tiefatmung bewirkt weiterhin eine Zentrierung der Kräfte im Körper. Die chinesiche Medizin und asiatische Kampfsportler machen sich diese Erkenntnis nicht umsonst zunutze, ebenso wie die Schwangerschaftsgymnastik, bei der die werdenden Mütter auf die Bewältigung der Geburt vorbereitet werden. Auch beim Singen und Sprechen kann durch die Tiefatmung viel Kraft aus der Mitte des Körpers geschöpft werden. Für die vorliegende Untersuchung ist dieser Aspekt im Hinblick auf den Aufbau der Atemstütze besonders interessant.
  4. Die ausgeprägte Hochatmung verursacht weiterhin, dass die Kehle bei jedem Atemzug ihre muskuläre Verankerung sowohl in den Schultern als auch am Brustbein verliert. Wer in die Brust atmet und diese dadurch nach vorne oben dehnt, bewirkt, dass die beiden einzigen Muskeln bzw. Muskelgruppen, die die Kehle unten halten können, verkürzt werden. Dadurch steigt die Kehle unweigerlich nach oben. Die Stimmbänder schwingen aber bei einer lockeren Tiefstellung der Kehle am Besten.

Mit dem Anheben der Brust und der Schultern bei der Hochatmung wird dieses Optimum also immer wieder in doppelter Weise untergraben. Der Verlust der freischwingenden Kehle infolge der Hochatmung führt daher leicht einsehbar zur Verkrampfung und Ermüdung der Stimmbandmuskulatur, da das freie Schwingen der Stimmbänder ständig ausgebremst wird. Die Tiefatmung erlaubt dagegen viel eher die lockere Tiefstellung der Kehle und das freie Schwingen der Stimmbänder, da die Muskeln, die die Kehle unten halten, durch die Atmung nicht in ihrer Funktion behindert werden.

  1. Letztlich blockiert die Hochatmung auch die Flexibilität des Atemapparats und des Blasebalgprinzips. Eine dynamisch flexible Durchgestaltung des Gesangs ist dann sehr viel schwieriger.

            Ist die Tiefatmung die natürlichere und verbreitetere? Wir haben gesehen, dass die Tiefatmung gegenüber der Hochatmung unschätzbare Vorteile beim Singen bietet. Ist sie deshalb aber auch die natürlichere Form des Atmens? Dies scheint in der Tat der Fall zu sein, obwohl das weitverbreitete Hochatmen bei Erwachsenen eher einen gegenteiligen Eindruck erweckt. Jedoch kann man bei Säuglingen an ihrem Atemverhalten und dabei besonders bei ihrem Schreien ersehen, dass sie ausgiebig Gebrauch von der Tiefatmung machen. Auch bei Tieren lässt sich die Natürlichkeit der Tiefatmung gut studieren. Man beobachte nur einmal einen Esel bei seinem Geschrei, und man wird sehen, wie ausgiebig seine hinteren Flanken arbeiten.

Wie aber kommt es, dass ein großer Teil der Erwachsenen das richtige Atmen verlernt hat? Hier können wohl drei Faktoren angeführt werden: Nachlässigkeit, individuell-psychische und kulturelle Einflüsse. Zum Einen führt eine laxe, lasche Haltung im Alltag und besonders bei der Arbeit zu einem unfreien Atmen und zu einer regelrechten Blockade des freien Auf und Abs des Zwerchfell. Wer ständig in eingeknickter Haltung sitzt, kann gar nicht richtig auf die Tiefatmung zurückgreifen und gewöhnt sich zwangsläufig die Hochatmung an. Günstiges Atmen erfordert also auch die Schulung einer freien aufrechten Haltung.

Aber vielfach ist ein blockiertes Zwerchfell bis zu einem gewissen Maß auch das Produkt psychischer Lasten. Wer frei atmet, spürt intensiver. Wer umgekehrt das freie Fließen des Zwerchfells einschränkt, spürt weniger stark, was oft als Entlastung empfunden wird. Löst sich das Zwerchfell, werden oft zahlreiche Emotionen frei. Das kann dazu führen, dass auch schon einmal ein Gesangsschüler zu weinen beginnt. Das werden wohl die meisten Gesangslehrer schon erlebt haben. Die Arbeit an der Atmung erfordert daher auch ein psychologisch behutsames Vorgehen. Man sollte die Schüler also nicht dazu zwingen, mehr mit ihrem Atem zu tun, als ihre Schamgrenzen im Moment zulassen, und allenfalls auch über dieses Phänomen sprechen.

Ein gewisses Maß an Introvertiert- und Verhaltenheit, wodurch die freie Tiefatmung ausgebremst wird, ist dabei sicherlich auch kulturell bedingt. Allgemein bekannt ist, dass verschiedene Kulturen anders mit dem Zeigen von Emotionen umgehen. Das tendenziell mehr extrovertierte Verhalten von Italienern erweist sich für die freie Atmung und dadurch auch für das Singen überhaupt als viel förderlicher als das eher emotional gebremste Verhalten vieler nördlicherer Kulturkreise.

Eine Forderung an den Gesangsunterricht sollte also sein, Wege aufzuzeigen, wie man die Tiefatmung über das Schlafen hinaus im Alltag und beim Singen wieder erlernen kann.

 

 

 

  1. 1. 2. Wie erreicht man günstig die Tiefatmung oder wodurch kann man sie unterstützen?

 

Beim ersten Einsatz oder nach einem instrumentalen Zwischenspiel spielt das Atemtempo keine Rolle, man kann sich gut vorbereiten und sich beispielsweise auch gut auf die Atemstütze besinnen. Das ändert sich jedoch rasch innerhalb des Stückes, wo das Nachatmen oft innerhalb kürzester Zeit geschehen muss und dabei den Fluss der Musik nicht stören soll. Ich komme auf das Problem, die Stütze beim Nachatmen, aufrechtzuerhalten zurück.

Es sollte also jederzeit möglich sein über eine freie Tiefatmung zur einer guten Atemstütze zu gelangen. Wie gelingt das? Durch einen möglichst freien Zugang der Luft in den Körper und durch eine höchstmögliche Elastizität der Muskeln, die das Einatmen ermöglichen. Betrachten wir zunächst die Freiheit des Atmens.

3.1.2.1. Die Freiheit des Atmens durch Mund- und Nasen-Räume und Kehle

 

Wie erreicht man am Besten den ersten Aspekt, den der möglichst ungestörten Luftzufuhr?

Die Freiheit der Luftzufuhr durch Mund und Nase: Bei dieser Frage sieht man sich zunächst einmal mit zwei sich nicht ausschließenden Alternativen konfrontiert. Wir sind in der Lage durch Mund oder durch die Nase zu atmen, wobei wir freilich auch das eine tun können, ohne das andere zu lassen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es sich beim ausschließlichen Vergleich der beiden Alternativen sehr viel schneller durch den Mund atmen lässt als durch die Nase.

Dies stellen auch Abläufe aus dem alltäglichen Leben gut unter Beweis. Beispielsweise atmet man beim Dauerlaufen automatisch durch den Mund, damit ein schnellerer Nachschub an Sauerstoff gewährleistet ist. Allerdings wird man hier auch abwägen müssen. Denn durch die Nasen- und die Mundatmung lassen sich unterschiedliche Resonanzen locken. Sucht man einen nasaleren kopfigeren Klang, so kann es durchaus geboten sein, zielgerichtet nur durch die Nase zu atmen. Auch lässt sich durch die reine Nasenatmung sofort leichter in die Flanken atmen als mit der Mundatmung. Generell bleibt es aber dabei, dass der Mund die bessere Alternative ist, um schnell zu einer größeren Luftmenge in den Lungen zu gelangen. Allerdings ermöglicht eine kombinierte Nasen-Mund-Atmung noch einmal eine bessere Luftzufuhr. Hierbei lohnt es sich, die kombinierte Atmung selbst und mit den Schülern zu spüren und zu üben.

Als vorbereitende Übung für die kombinierte Nasen-Mund-Atmung bieten sich hier Übungen mit fallendem Kiefer an (s. u.), bei der die Öffnung von Mund- und Nasenraum gleichzeitig gefördert wird.

Entspannungsübungen für das Gesicht können zudem helfen, die Nasenräume noch mehr für das Einatmen zu öffnen. Solche Löseübungen öffnen gleichzeitig zusätzlich auch fürs Singen gut brauchbare Resonanzräume. Gerne findet die Anweisung, dumm oder mit schmalem Mund arrogant zu schauen verknüpft mit vielen Bildern und Variationen, Verwendung. Von einem früheren Lehrer lernte ich hierzu noch zwei weitere nützliche Anweisungen: sich die Wangen als Schubladen vorzustellen, die man aus dem Hinterkopf ziehen kann, oder auch die Vorstellung, das Gesicht bestehe nicht aus Haut, Fleisch und Knochen, sondern aus Haut, Öl und Knochen.

Die Freiheit der Luftzufuhr im Mundraum: Um möglichst frei und schnell atmen und nachatmen zu können, kommt als nächstes die Beobachtung des Mundraums in Betracht. Auch hier kann die Luftzufuhr begünstig oder ausgebremst werden. Am leichtesten gelingt die freie Luftzufuhr, wenn die Zunge entspannt ist. Auch hier gilt es aber wieder abzuwägen, denn es kann für die Weckung der Resonanzen durchaus von Vorteil sein, wenn man bereits tendenziell auf den Vokal einatmet, mit dem man dann beginnt zu singen. In jedem Fall wäre aber die liegende Zunge für die Luftzufuhr bei „a“, „o“ und „u“ günstiger als die nach oben gewölbte Zunge bei „i“, „e“, „ä“, oder „ü“.  Konsonanten, die die freie Luftzufuhr besonders behindern, sind neben den Zischlauten auch das „j“ und das „l“. Auch hier sollte besonders auf die Lösung der Zunge geachtet werden.

Eine gelöste Zunge ist bei vielen Menschen nicht selbstverständlich. Daher ist es durchaus sinnvoll, hierzu Vorstellungen und Übungen anzubieten. So kann man sich vorstellen, die Zunge liege wie Wasser im Mund oder sie gehe wie Hefe auf. Man kann die Lösung der Zunge aber auch aktiv trainieren durch vorbereitenden Übungen: ohne Singen etwa mit der Anweisung, sich mit der Zunge die Zähne von allen Seiten zu putzen, oder mit Singen oder Sprechen, indem man mit der Zunge schnelle Silbenkombinationen mit dem Konsonanten „l“ (etwa „schallalla“) hinwirft.

Auch die Kieferstellung ist nicht ohne Einfluss auf die Freiheit der Luftzufuhr. Leicht einsichtig ist, dass die Luft nicht schnell durch den Mund einfallen kann, wenn der Unterkiefer oben ist und den Mundraum dadurch fast komplett verschließt. Die Lösung ist aber nicht das Aufreißen des Mundes nach Art eines Entenschnabels, weil dadurch der hinter Mundraum klein wird, sondern das Fallenlassen des Mundes nach Art eines Nussknackers. Dadurch wird der Mundraum größer, und noch einmal dadurch, dass man darauf achtet, dass er beim Fallenlassen oder „Abseilen“  hinten bleibt.

Franziska Martienssen-Lohmann schlug als vorbereitende Übung vor, sich in ein Grossmütterchen hineinzuversetzen, das im Sessel einschläft und dabei den Kiefer hängen lässt. Man übe dies und spüre, dass der Kiefer nach der ersten Entspannung einige Sekunden später noch einmal zusätzliche Spannung abgibt. Martienssen-Lohmann ließ diese Übung alle ihre Schüler am Anfang ihres Unterrichts praktizieren. Ich hörte von einer Freiburger Gesangsprofessorin, die ihren Schülern empfahl, sich den Kiefer als den hängenden Euter einer Kuh vorstellen, um jederzeit die Öffnung als Entspannung zu spüren. Nützlich sind auch aktive Kieferlösungsübungen wie ein plötzliches Erstaunen auf „boa“, oder das explosive Sprechen auf die Silbe „ba“, oder aber sehr gängige öffnende Ausrufe wie: „Hallo“ oder besser noch: „Mama“

            Die Freiheit der Luftzufuhr in der Kehle: Die nächste Blockademöglichkeit für die freie Luftzufuhr bietet die Kehle. Nur eine offene bwz. eine geweitete Kehle gewährleistet das schnelle Nachfallen der Luft.

Um den Platz der Kehle überhaupt zu spüren, der offen sein soll, eigenen sich sehr leicht gesprochene Glottisschläge wie bei „ich“ oder „ach“. Oder man versuche ein gleichmäßiges Knarren in der Kehle zu erzeugen, mit dem man auch glissandieren kann. Man kann auch den Bereich der Taschenfalten über den Stimmbändern dehnen, in dem man versucht, die Luft von unten gegen die Taschenfalten leicht zu pressen, so dass noch Luft entweichen kann, und dabei ein Geräusch zu erzeugen, was an das Sauggerät beim Zahnarzt erinnert. Gewinnbringend bei meinem eigenen Studium und im Unterricht habe ich auch eine Übung eingesetzt, bei der man die Luft durch den Mund ansaugt, sodass die Kehle nur sehr leicht verschließt. Danach wartet man, bis sie sich der Verschluss von selbst löst. Für das Gefühl, die Kehle offenzuhalten, nutzt es dann vorbereitend zu gähnen. Bei der Konzentration auf die offene Kehle hilft die Vorstellung oder das Erspüren von Kühle in der Kehle. Man kann sich die Kehle auch als offenen Brunnen vorstellen.

Aktive Übungen zur offenen Kehle finden sich bei Heinrich von Bergen[3]. Man imitiere etwa eine große Fahrradpumpe mit einem Griff, der mit den Händen zu drücken ist, atme beim Drücken aktiv aus, und achte beim Ziehen auf ein absolut geräuschloses Einatmen.

 

 

3.1.2.2. Die Freiheit des Atmens durch Weitung des Brustraums

 

            Die Freiheit des Brustraums: Gehen wir von der Kehle tiefer in den Körper, so gelangen wir zu dem Bereich, der im Wesentlichen von der Hochatmung betroffen ist. Wir haben oben gesehen, dass die Tiefatmung der Hochatmung für das Singen unbedingt vorzuziehen ist. Aber wir können auch die Freiheit der Tiefatmung und die Vorbereitung der Atemstütze noch einmal dadurch begünstigen, dass wir Aspekte der Hochatmung mitnehmen. Ich rede hier hauptsächlich von dem Öffnen des Brustkorbs. Wenn wir den Brustkorb weiten und offen halten, kann das in Höhe des unteren  Brustkorb verwachsene Zwerchfell freier schwingen. Eine solche Weitung wird durch die Hochatmung erreicht. Diese Prinzip über das Singen aufrechterhaltend hilft bereits beim Stützen.

Jedoch muss dabei darauf geachtet werden, dass die Aspekte, die der Stimme den Halt und die Kraft nehmen nicht verloren gehen. Erstens ist diese Form der Hochatmung nur unterstützende Vorbereitung der Tiefatmung und darf diese nicht ersetzen. Und Zweitens muss darauf geachtet werden, dass sowohl die Schultern, als auch das Brustbein nicht gehoben werden dürfen. Durch eine hohe Schulter und ein gehobenes Brustbein wird die Tiefstellung der Kehle behindert (s. o.).

Welche Wege neben der „normalen“ Hochatmung gibt es den Brustkorb zu dehnen? Der englische Opernsänger Robin Adams schlug in einem Gesangsworkshop als vorbereitende Übung vor, einmal so viel Luft zu schöpfen wie möglich und danach die Weitung der Rippen zu halten. Andere Sänger empfehlen die Vorstellung, unter die Rippen zu atmen, um mehr Weite zu erzielen, und diese Weite dann beizubehalten. Jedoch hörte ich hier auch schon Gegenstimmen, die davor warnten, dass das übermäßige statische Offenhalten des Brustkorbs langfristig zu  muskulären Ermüdungserscheinungen führen könnten, die auf Dauer gesehen in ein  nicht mehr gut kontrollierbaren Vibrato münden können.

Mehr zu empfehlen sei daher eine Weitung als ständiger Prozess, mit der vom Standpunkt der Luftführung auch Messa-Di-Voce-Töne und andere Dynamikänderungen gut bewältigt werden können. Auch die oben beschriebene Luftpumpenübung kann mit einer die Arme öffenenden Bewegung bei der Einatmung das Offenhalten des Brustkorbs suggerieren.

 

 

 

3.1.2.3. Die Lösung der Unterbauch-Becken-Flanken-Region als Voraussetzung für eine freie und gute Tiefatmung

 

Wir stoßen nun in den eigentlichen körperlichen Bereich der Tiefatmung vor. Die Tiefatmung ist jedoch nur sehr beschränkt auf Kommando erreichbar, da viele Prozesse hier auch über das vegetative Nervensystem gesteuert werden. Am ehesten gelingt sie uns noch beim Liegen in Ruhestellung und im Zustand der Entspannung. Man kann also vorweg einmal üben, liegend dem Gefühl nachzuspüren und es dann so gut wie möglich ins Stehen mitzunehmen.

 

 

  1. a) Direkte Spürübungen

 

– Man kann die Hände an verschiedene Orte des Bauches, der Flanken und des Rückens legen und versuchen jeweils eine Atembewegung zu spüren oder dort direkt „hinzuatmen“ und die Stellen zu dehnen. Alle diese Übungen begünstigen ein Spüren von Formen der Tiefatmung.

– Beliebt ist in der Gesangspädagogik und besonders in der chorischen Stimmbildung eine Übung, bei der man stehend den Oberkörper nach vorne sinken und die Arme zum Boden hängen lässt. Diese Haltung begünstigt gut eine Gefühl, die Atmung im unteren Rücken zu spüren, ein Gefühl, dass wir auch für den eigentlichen Stützvorgang sehr gut gebrauchen können.

– Eine ähnliche Zielrichtung haben wohl solche Übungen wie die, dass man beim Einatmen ein Knie anhebt und dafür auch ein besseres Gefühl für die Öffnung (und die Stützmuskulatur) im unteren Rücken bekommt.

– Das Atmen direkt durch die Nase begünstigt (wie oben schon angesprochen) eher das Gefühl von Dehnung in Flanken und unterem Rücken als einem Teil der Tiefatmung.

 

 

  1. b) Scheinbare körperliche Anweisungen

 

Viele in der Gesangspädagogik oder Sprecherziehung gegebene körperliche Anweisungen sind jedoch eigentlich solche, die den Vorgang nicht real beschreiben, sondern versuchen über ein Bild ein Gefühl herzustellen, dass hilft Raum für ein gelöstes Zwerchfell zu schaffen und Raum für die Luft im unteren und hinteren Teil der Lungenflügel. Solche Anweisungen sind etwa:

– die Luft in den Magen atmen oder trinken

– die Luft in die Flanken atmen, durch die Füße einströmen lassen, durchs Becken aufnehmen usw.

Man kann die Luft nicht in den Magen saugen. Aber die Vorstellung ist sehr nützlich. Man kann die Luft nicht mit den Flanken einatmen oder durch die Füße ansaugen, aber der Effekt ist trotzdem der Gewünschte.

 

 

  1. c) Passive Lösung des Atems über Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen

 

In den Jahren meines Gesangsunterrichtes habe ich von verschiedenen Seiten Wege kennengelernt, wie man es schafft, über Sinneswahrnehmungen und Bildern einen Aufatmungsreflex auszulösen, der gleichzeitig auch die Muskulatur für die Tiefatmung löst. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Andere Bilder sind denkbar:

– Das Gefühl, eine Perücke aufzuhaben, die in der Mitte des Kopfes von der Stirn nach hinten wegrutscht, bewirkt nicht nur eine Öffnung der Stirnräume, sondern auch eine Lösung der unteren Körpermitte.

– Das Gefühl von Staunen bewirkt ein Wachsen des Körpers: Hierdurch werden jedoch meiner Erfahrung nach mehr schon eine Lösung der Muskulatur in den Flanken ausgelöst.

– Ein wachsames Lauschen dehnt den Körper zur Seite und kann eine Lösung der Atemmuskulatur in den Flanken und in der unteren seitlichen Rippenregion bewirken.

 

 

  1. d) Passive Lösung des Atmens vermittels Körpertätigkeit

 

Längst hat es sich herumgesprochen, dass eine Arbeit am Körper wohltuend auf die Befreiung von Atem, Seele und Stimme einwirkt. Vorschläge zu aktiven Körperübungen inklusive Bebilderung finden sich zuhauf in Büchern wie  „Der erfahrbare Atem“ der bekannten Atemtherapeutin Ilse Middendorf. Ihre Ansätze werden mittlerweile auch mehr und mehr von SängerInnen und Gesangspädagogen aufgegriffen und in die Arbeit am eigenen Singen und mit Schülern integriert. Viele weitere Körper- und Atemschulen arbeiten jetzt mit ähnlicher Zielrichtung. Ich selbst habe noch zu wenig Einblick in dieses spannende Thema und möchte mich gerne da tiefer einarbeiten. Vorerst kann ich noch nicht beurteilen, welche Vorgänge objektivierbar sind und inwiefern es sich hier um ein subjektives Erleben handelt.

Mit Stefano Kunz-Annoff haben wir über Jahre im Unterricht geübt und in die Arbeit am Singen integriert, den Atem reflektorischen zu lösen über das aktive Fallenlassen des Kiefers, sowie über eine Streckung des Körpers über den Kopf nach hinten oben zur Decke gedacht. Auch hier wird eine Lösung des Tiefatmung über andere Körpervorgänge erzielt.

Der oben zitierte österreichische Gesangspädagoge Joseph Schmidinger beschreibt hierzu in seinem Buch Biodynamische Stimmbildung einen möglicherweise objektivierbaren Vorgang zu dieser Thematik: „Der organische Vorgang beim Lächeln bewirkt ein Hochheben der Maske, wobei sich der Nasenraum und der Rachenraum aufweiten und auch die Ohrentrompeten hinaufschieben. Auf diese Weise wird der Luftstrahl der Einatmung unmittelbar zum Rachen und über die Speiseröhre hinunter unter das Zwerchfell zu jener Tiefatmung geführt, die den… gehobenen Zustand im Körper bewirkt“[4].

 

 

  1. e) Aktiv-Passive Lösung des Atems mittels meditativer Vorgänge

 

Nicht nur die Körperarbeit, sondern auch die meditative Konzentration auf Ruhe kann den Atem befreien. Dazu werden bekanntlich heute viele Workshops angeboten. Mittels solcher meditativer Praktiken kann sich eine wohltuende Wirkung in Form von Verspannungslösungen und dadurch eine Befreiung des Atems einstellen. Jedoch bleibt die Wirkung zunächst einmal unspezifisch, und ein bessere gestütztes Singen ist hier eher die Folge eine Langzeitbeschäftigung mit meditativen Praktiken. Das Gefühl, dass sich zunächst nur durch eine längere Konzentration auf Ruhe oder fließenden Atem einstellt, braucht lange, um im Alltag tatsächlich auch fürs Singen gewinnbringend abrufbar zu sein.

Josef Schmidinger, Gesangspädagoge und langjähriger Sänger am Wiener Opernhaus, beschreibt jedoch einen Prozess, der mit meditativer Tiefatmung zu tun hat, der einigermaßen objektiv umsetzbar ist und der aus dem Bereich der chinesischen Medizin stammt. Ich habe ihn selbst als nützlich und gewinnbringend nachvollzogen.

„Die Luft wird durch die Nase eingeholt“, referiert Schmidinger die 2000 Jahre alte Beschreibung. „Sie steigt hinunter zu den Nieren und durchläuft die Eingeweide. Da hört jedoch die Einatmung der gewöhnlichen Menschen auf, weil diese nicht fähig sind, die Barriere des Zwerchfelles zu durchbrechen. Nur die ‚Eingeweihten‘ sind imstande, dieses Hindernis zu überwinden und dem Atem zu C’i-hai zuführen“[5].

In ihrer vollen Länge lautet die 2000jährige Atemmediationsformel aus dem Taoismus:

„Beim Atmen muss man so vorgehen:

Man behält den Atem und er sammelt sich. –

Wenn er sich gesammelt hat, dehnt er sich aus. –

Wenn er sich ausdehnt, geht er nach unten. –

Wenn er nach unten geht, wird er ruhig. –

Wenn er ruhig geworden ist, wird der fest. –

Wenn er fest geworden ist beginnt er zu keimen. –

Wenn er aufgekeimt ist, wächst er. –

Wenn er gewachsen ist, muss man ihn wieder zurückdrücken.-

Wenn er zurückgedrückt ist, erreicht er den Scheitel. –

Oben drückt er gegen den Scheitel, unten drückt er abwärts. –

Wer dies befolgt, lebt – wer das Gegenteil davon tut, stirbt!“[6]

Schmidinger reduziert im Hinblick auf den Nutzen beim Singen dieses Modell auf 3 Stufen:

„1. Die erste Stufe entspricht dem Atmen während des Schlafens oder während des betätigungslosen Wachseins und ist biologische bedingt (wenn nicht doch schon verlernt Anm. d. A.).

  1. Die zweite Stufe gleicht dem Einatmen vor dem Suppenblasen oder vor dem Händeanhauchen. Allerdings wird etwas tiefer eingeatmet, weil die Ausatmung kräftiger sein soll,
  2. Die dritte Stufe ist der ‚Zustand der Mitte‘, wie ihn die alten Chinesen beschreiben. Sie verschafft noch mehr Luftvolumen (und ‚durchbricht‘ im oben beschriebenen Sinne das Zwerchfell Anm. d. A.)“[7].

 

 

3.1.3. Das schnelle Nachfallen des Atems als Voraussetzung einer voll funktionsfähigen Stützfunktion

Im Idealfall erlauben es Singpausen in Stücken die Atemmuskulatur wieder zu entspannen. Und oft lohnt es sich, sich die Zeit dazu zu gönnen. Hierzu fand ich ein nützliches Zitat von Luciano Pavarotti: „Wie ich atme ist folgendermassen: Ich lasse den Atem frei und gleichmässig den Luftballon füllen… und stelle sicher dass ich dabei das Zwerchfell nicht einziehe, denn dann steigt es auf. Das Zwerchfell steigt von ganz alleine auf wenn der Atem beim Singen ausströmt. Mein Geheimnis ist dass ich den Atem langsam ausströmen lasse und am Ende einer langen Phrase, wenn mir die Luft beim Singen ausgeht, warte, bis ich entspannt wieder eingeatmet habe. Der Luftballon – also das Zwerchfell – muss Zeit genug haben, sich zu entspannen und sich wieder von oben nach unten zu bewegen“[8].

            Aber nicht immer haben wir die Zeit, uns als Vorbereitung für ein gestütztes Singen so vorzubereiten, wie die obigen Übungen wie Einstellungen und Pavarotti das in dem angeführten Zitat beschreiben. Viele Stücke –  hier beispielsweise in besonderem Maße barocke Koloraturarien –  verlangen mitunter ein solch schnelles Nachatmen, dass überhaupt keine Zeit besteht, viele der vorgeschlagenen Wege zu beschreiten. Ziel aber muss es dennoch sein, die Stützfunktion auch über den schnellen Atem hinweg aufrecht zu erhalten und nicht zu beeinträchtigen. Was kann hierfür unternommen werden?

Für das schnelle Nachatmen gilt zunächst einmal umso mehr, dass der Weg, den die Luft nimmt, um in die Lungen einzufallen, frei sein muss. D. h. im Idealfall ist dabei der Zugang über Mund und Nase gleichzeitig geöffnet, befindet sich der Kiefer in einer lockeren hinteren Hängestellung, behindert die Zunge ferner das Einfallen der Luft nicht, ist die darüber hinaus Kehle offen und in einer geweiteten Einatmungsstellung und der Brustkorb geweitet.

Zusätzlich sollte das Zwerchfell durch eine möglichst große Flexibilität besonders der Bauch-, Flanken- und Rückenmuskulatur sehr schnell in der Lage sein, in seine ideale Tiefstellung zurückzukehren. Zu diesem Zweck gibt es einerseits nützliche vorbereitende Übungen, anderseits aber auch geschickte Griffe beim Singen.

Als vorbereitende Übung wird mitunter empfohlen:

Hecheln: Durch ein immer schneller werdendes Vor- und Zurückziehen des Bauches übe man die Flexibilität der Atemmuskulatur. Gradmesser der muskulären Flexibilität ist dabei die Geschwindigkeit, mit der die Ausführung gelingt.

Vorbereitendes Ausnutzen eines Körperreflexes: besonderes Üben des Abspannreflexes als Folge des Lösens der Ventilspannung. Schnell hintereinander gesprochene Zischlaute provozieren einen ständigen Reflexatem.

            – Lösen der Ventilspannung beim Saugen: Hans-Josef Kaspar schlägt eine vorbereitende Übung mit zurückgezogenen t-ähnlichen Laut vor. Dabei wird beim Ansaugen der Luft durch den leicht geöffneten Verschlusslaut „t“ entsteht eine gewisse Haltspannung um Bauch, Flanken und Rückenbereich. Durch das schlagartige Loslassen der Ventilspannung springt das Zwerchfell sofort in einer gelöste Tiefstellung[9]. Möglich wäre auch die Vorstellung an einem engen Strohhalm zu ziehen und dabei vom Strohhalm abzurutschen.

Aber was kann man beim Singen direkt unternehmen, dass der Atem schnell nachfällt und gleichzeitig die Stützfunktion aufrecht erhalten bleibt?

– Atmen und Singen in gleicher Richtung: Nützlich ist hier die Vorstellung stets in die gleiche Richtung zu singen wie zu atmen, nämlich nach hinten, während man den Körper dabei über das Atmen hinweg offen hält.

– Ausnutzung von natürlichen Abspannreflexen: Dankbar sind Verschluss- und Zischlaute am Schluss einer Phrase, die eine schnelle Nachatmung reflektorisch gut erlauben.

– Aktives Herbeiführen von Abspannreflexen: Aber nicht immer stehen am Schluss einer Phrase solche Abspannkonsonanten. Caruso (und wohl nicht nur er) lehrte, dass man nach jeder Gesangsphrase noch zusätzlich auspusten solle, um möglichst schnell und reflexartig die untere Bauchmuskulatur zu lösen. Auf älteren Aufnahmen hört man (zu diesem Zweck?) oft wie ein Nachstoßen der Schlusstöne durch die SängerInnen. Bei der Ausführung der Anweisung eines zusätzlichen reflektorischen Abspannimpulses am Schluss jeder Phrase, sollte wohl darauf geachtet werden, dass dadurch keine musikalische Linie hörbar gestört wird. Oft reicht für das Auslösen des Atemreflexes schon nur ein aufmerksames und nicht halbherziges Aussingens des Schlusstones.

 

 

 

 

 

 

 

3.2. Der Aufbau der Atemstütze

 

3.2.1. Grundsätzliche Überlegungen zum Aufbau der Atemstütze

 

Nach der Suche nach einer günstigen Einatmung, die das anschließende gestützte Singen möglichst optimal begünstigt, geht es im Folgenden nun vor allem darum, wie man die Ausatmung möglichst günstig steuern kann, so dass sie die Stimme für alle stimmlichen und musikalischen Erfordernisse fit gemacht wird. „Den Atem zu regulieren, ihm die passende Form zu bereiten, in der er laufen, kreisen, sich entfalten und seine ihm nötigen Resonanzräume erreichen kann, muss unsere Hauptaufgabe sei“, appelliert die Opernsopranistin Lili Lehmann, die u. a. bei Richard Wagner mehrere Partien bei der Uraufführung des Rings der Nibelungen sang, in ihrem Buch Meine Gesangskunst[10]. Die Ausatmung soll zum Ziel einer idealen Tonproduktion in Zeitlupe und der Atem kontrolliert abgegeben werden. Das Mittel dazu ist vor allem die Einatmungsmuskulatur.

Bei der Frage nach einer guten Atemstütze hüte ich mich davor, Patentrezepte geben zu wollen. Während der Zugang zu einer guten Einatmung als Voraussetzung für den Aufbau einer guten Atemstütze einigermaßen – aber auch nicht in jeder Hinsicht – objektivierbar ist, begeben wir uns nun auf viel weniger sicheres Gelände. Widersprüchliche Zitate großer Meister dazu, die alle durch ihre Stimmkunst beeindruckt und berührt haben, dokumentieren, wie individuell der Zugang zur persönlichen Stütze ist. Was dem einen das Credo, ist dem anderen völlig unwichtig, ja er verzichtet sogar gänzlich auf diesen Zugang.

Ich habe die Warnung Carusos im Kopf, dass „der richtige Stimmsitz beim Singen die richtige Atemstütze hervorbringt und nicht umgekehrt“, aber auch anderer großer Sänger, die sagen, dass die Stütze der musikalischen Idee und günstiger stimmlicher Einstellungen folgt. Andererseits denke ich auch an die vielen Sängerinnen und Sänger, die als Opfer einer ungünstigen Stütztechnik, ihre Ausbildung oder ihre Karriere aufgeben mussten. Es muss doch möglich sein, Wege aufzuzeigen und Angebote zu Formen des Stützens zu geben, die die Erreichung der oben formulierten Ziele begünstigen.

Das Ziel des freien Singen ist es, ob vom Phänomen oder von möglichen Wegen her betrachtet, zumindest immer das Gleiche: Indikator für ein optimal gestütztes Singen, was einer idealen Atemführung gleich kommt, ist eine frei schwingende Stimme mit Vibrato – kein Tremolo! –, die sich mit großer Leichtigkeit und verschiedene Farbgebungen, durch all Dynamikstufen und dem körperlich vorgegebenen stimmlichen Ambitus mühelos bewegen kann, und dabei in der Lage ist, alle musikalischen Feinheiten auszugestalten. Diesem Ideal näher zu kommen, bleibt ein stetiger Prozess. Fehlt ein Aspekt, ist die Stütze nicht ideal. Ein unkontrolliertes Tremolo ist anders als ein angenehmes Vibrato in jedem Fall Indikator für eine mangelnde oder den momentan stimmlichen Erfordernissen nicht angepasste Stütze.

 

 

3.2.2. Atemstütze in Abhängigkeit zu anderen Parametern

 

3.2.2.1. Atemstütze in Abhängigkeit zum Stimmbandschluss und zur Reonanzgebung

 

Die Unmöglichkeit, ein Patentrezept für eine allgemein gültige gute Atemstütze zu geben, liegt nicht nur wie oben erwähnt darin, dass viele nützliche Prozesse vegetativ gesteuert werden und willentlich gar nicht direkt zugänglich sind, sondern auch schon allein darin, dass sich die Anforderungen an eine gute Atemstütze bei einer anderen Qualität des Stimmbandschlusses und bei einer anderen Resonanzgebung sofort ändern.

Ein Opernbass in einer dramatischen Partie muss von seinem Körperbau und von der Art des Gesanges nachvollziehbar qualitativ anders stützen als eine leichte Popstimme auf ähnlichem Niveau. Er benötigt allein wegen der hohen Anforderung an die Tragkraft seiner tiefen Stimme gegen ein volles Orchester viel mehr Körperkraft als eine mit Mikrophon singende Popsängerin, die in einem Lovesong mit vielen leichten Koloraturen, Verzierungen und Farbwechseln die volle Bandbreite der im Lied intendierten Emotionen in Klang umzusetzen versucht und die ihre Stützmuskulatur sehr viel feiner gebrauchen muss.

Man kann mit offenen Stimmbändern und mit fast geschlossenen ganz andere Farbschattierungen und Dynamiken erzeugen, und alles hat am richtigen Platz seine Berechtigung.

Es gibt daher viele Gesangspädagogen, die das Phänomen Stütze stets in Korrelation zum Stimmbandschluss sehen.

Immer wieder haben Sänger ihre Atemstütze so beschrieben, dass sie das Gefühl hätten, der Ton werde auf dem Atem getragen. Die alten Italiener nannten dieses Prinzip cantare sul fiato  (dt. „Singen auf dem Atem“) „Wie ich die Atemstütze verwende?“, sagt beispielsweise Joan Sutherland: „Ich singe auf dem Atem, nicht mit dem Atem. Mein Ton schwebt auf dem Atem“[11]. Ein schönes und oft gebrauchtes Bild für den gesungenen Ton auf dem Atem ist hier der Ball, der ständig auf einer Fontaine gehalten wird. Der auf dem Atem getragene Ton beschreibt ein möglichst vollständiges Umsetzen der Luft in einen Ton, der sich dann wie auf dem Atem aufsitzend gut modellieren lässt. Der Ton kann zu großer Lautstärke entwickelt werden.

Es kann jedoch auch schöne Effekte mit sich bringen, wenn die Luft absichtlich so geführt wird, als gehe sie mit („col fiato“) oder durch den Ton, Udo Reinemann, der vielen Schweizer Musikpädagogen von seinen Kursen in Zürich ein Begriff ist, hat diese Technik gelehrt und schön vorgemacht: Man singe mit dem Gefühl, als ströme der Atem durch jeden Vokal und jeden Konsonanten. Das Resultat ist zwar ein weniger lautes Singen. Jedoch werden dadurch viele neue  Farben der Stimmen geöffnet. Es versteht sich von selbst, das das Singen der Töne, je nach dem, ob man ein Singen „col fiato“ oder „sul fiato“ anstrebt, die Stützmuskulatur in anderer Weise beansprucht.

Auch die Frage der Resonanzgebung hat unmittelbare Auswirkungen darauf, in welcher Qualität die Stützmuskulatur eingesetzt werden soll. Resonanzen sprechen unterschiedlich schnell an und werden von einer unterschiedlichen Atemführung unterschiedlich gut getragen. Vor allem Resonanzen, die fein und eher sehr schnell ansprechen, werden durch zu viel Luftdruck und durch zu brachiales Vorgehen, erst gar nicht zum Schwingen gebracht. Wenn sie schwingen sollen, muss die Luftabgabe sehr fein und diffizil gesteuert werden, also eine gute Kontrolle der Stützmuskulatur erfolgen. Die Art der Luftabgabe beeinflusst in jedem Fall auch die Resonanzabmischung.

SängerInnen haben es also im Rahmen ihres naturbedingten Timbres bis zu einem gewissen Maß in der Hand, wie schön ihre Stimme klingt und ob sie durch die Art ihrer Atemstütze die schön klingenden Resonanzen zum Schwingen bringen oder nicht.

 

3.2.2.2. Wie viel Luft soll man zu einem guten Singen einatmen und abgeben?

 

Eine weitere Bedingung, die auch die Qualität der Stütze verändert ist die Atemmenge.

Die Frage, wie viel Luft man eigentlich einatmen und abgeben soll, klingt, als gehöre es oben zum Thema Einatmung, ist in Wirklichkeit aber im Hinblick darauf formuliert, welche Möglichkeiten dadurch geboten werden, beim Ausatmen den Ton zu stützen und zu modellieren.

Die Frage wurde und wird sehr unterschiedlich beantwortet. Sie wurde bereits einmal zu einem erbitterten Methodikstreit. Um Kraft zu sammeln wurde vor 100 Jahren teilweise gelehrt, viel Luft zu nehmen. Der bekannte deutsche Gesangspädagoge Paul Bruns vertrat dagegen die Ansicht, dass es zum Singen nur sehr wenig Luft benötige und dass man diese Luft fein und sorgfältig in Klang umsetzen solle. Man solle sogar zuerst alle Luft ausatmen und dann überhaupt nur mit der Restluft (Residualluft) singen. Ich habe diesen Ansatz selbst bei meinem zweiten Gesangsprofessor in der Nebenfachausbildung von Schulmusik kennengelernt.

Bruns betonte, dass das Vollpumpen mit Luft, die Flexibilität der Muskulatur und der Stimmgebung stark beeinträchtige und dass sich mit wenig Atem viel besser singen lasse. In ähnlicher Weise hat die oben bereits zitierte Opernsängerin Lili Lehmann das formuliert: „Gewiss atmete ich viel zu viel Luft ein, krampfte dabei dies oder jenes, was mir natürlich wieder die Elastizität meiner Muskeln raubte, hatte trotz aller Vorsicht und Vorbereitung beim Einatmen oft nicht Atem genug, manchmal wenn ich mich nicht sonderlich vorbereitet hatte, mehr als genug,“[12]

Vor zuviel Sparen der Luft, beim Versuch die Luft gut einzuteilen, warnt freilich der Operntenor und Gesangspädagoge Hans-Josef Kaspar. Er schreibt: „Ist die Anblasstärke des Atems unter den Stimmlippen im Verhältnis zur Tonhöhe zu gering, was oft zur Höhe hin der Fall ist, schließt der Bernoulli-Effekt die Stimmlippen nicht intensiv genug. Daraus folgt entweder ein schneller Luftverbrauch oder ein falsche Einsatz der Stimmlippenschließmuskeln. Die müssen nämlich dann für die Atemdosierung das Stimmlippenventil schließen“[13]

 

 

3.2.3. Unterschiedliche Methoden zum Aufbau der Atemstütze

 

Nach solchen Überlegungen dazu, dass man keine allgemeines Patentrezept fürs Stützen von Tönen geben kann, dass vielmehr die Suche nach der richtigen Stütze ein individueller Prozess ist, der zudem noch von verschiedenen äußeren Faktoren wie Stimmbandschluss und gewünschter Resonanzgebung abhängt, möchte ich nun darauf eingehen, welche grundsätzlichen Wege es gibt, sich dem Phänomen Atemstütze anzunähern.

 

3.2.3.1. Aktiv willentliche Ansätze

 

Ansatz 1: Stützen über Atemstau

 

Beginnen möchte ich mit einem Zugang zur Stütze mit einem vorbereitenden Atemstau. Er basiert im Prinzip auf natürlichen Vorgängen, ist aber m. E. dennoch nur sehr mit Vorsicht zu genießen.

Es geht darum, zuerst im Körper ein Staugefühl zu erzeugen, das die Einatmungsmuskulatur zu besonderer Stützkraft zwingt, um aus dieser Anspannung heraus gestaut zu singen. Ein solches Staugefühl kommt zustande, wenn man etwas Schweres zieht, schiebt oder anhebt oder beispielsweise beim Stuhlgang presst. Der Körper reagiert dabei mit einer großen Anspannung vieler Muskeln, die auch an der Einatmung beteiligt sind. Bauch und Flanken werden hart. Mit einher geht von Natur aus reflektorisch ein Verschluss der Stimmbänder. Diese Methode, das so genannte Stauprinzip, wurde in der Gesangsausbildung zu Beginn des 20. Jhs. in besonderer Weise von Georg Armin propagiert und bildete sich, wenn ich das richtig verstanden habe, mitunter als eine Reaktion auf die gehobenen Anforderungen der SängerInnen heraus, gegen immer größere Orchester und brillanter klingende Instrumente stimmlich anzukommen. Ihren Ausgang nahm dieses Entwicklung wohl mit der Musik Richard Wagners.

Die Methode bot also vordergründig eine Erhöhung der Schallkraft. Ich selber lernte sie im Unterricht bei meinem ersten Gesangsprofessor in der Nebenfachausbildung für Schulmusik kennen. Etwas Schweres zu heben oder seinen Bauch extrem anzuspannen, sich sogar gegen den fest angespannten Bauch zu lehnen und dabei zu singen, kann im Unterricht einen Aha-Effekt bei den Schülern auslösen, und ihnen den Unterschied zwischen fehlender Stütze und starker Stütze unmittelbar erfahrbar werden lassen. Den dauerhaften Einsatz solcher Brachialmethoden würde ich jedoch auf keinen Fall empfehlen.

Die Nachteile dieser Stützform liegen auf der Hand: Unflexibilität in Muskulatur und Gesang, Verbrustung und ein Verschleiß der Stimmbänder. Die reflektorisch geschlossenen Stimmbänder werden zwar absichtlich geöffnet. Dennoch wirkt dieses Prinzip bei der Brachialmethode meines Erachtens im Hintergrund immer mit.

Diese Stütztechnik, bietet auf den ersten Blick den verlockenden Reiz, Räume gut füllen zu können. Ich selber bin früh davor zurückgeschreckt, diese Methode weiter zu verfolgen. Mein mittlerweile verstorbener Gesangsprofessor, der nach dem Stauprinzip unterrichtete und bis zu seiner Pensionierung im Bayreuther Opernchor mitsang, hatte sich letztlich seine Stimme versungen, sodass sie zuletzt überhaupt nicht mehr schön klang.

Auch andere warnen davor: „Die Atemstütze in einem Vorpressen des durch das Zwerchfell beim Einatmen nach vorn geschobenen Bauches zu suchen, wie das teilweise geschieht, in auf alle Fälle falsch“[14], urteilt der Komponist Fritz von Borries, und der Gesangspädagoge Paul Bruns wettert gegen Methoden, die auf dem Stauprinzip aufbauen: „Letztere auffallend rückständigen Methoden bewirken durch gewaltsam eingezogenen Bauch, Stemmen, Decken, vollgepumpten und gestauten Thorax sowie eingepferchte, nasale Führung der Stimme eine schwere Zunge, eine geschlossene Kehle, halsige Enge… Diese Methoden führen letztlich zum Ruin der Stimme“[15].

 

 

Ansatz 2: Stützen über externe Anregungen der Einatmungsmuskulatur

 

Im Prinzip ist dieser Weg mit dem vorausgegangen verwandt, insofern es darum geht, natürliche Prozesse – gewissermaßen seitwärts eingeführt – zur aktiven Anregung der Stützmuskulatur fruchtbar zu machen. Die Methoden führen nicht zur gleichen Schallkraft beim Singen. Der Vorteil gegenüber der vorgestellten Brachialmethode ist aber die größere Flexibilität der Muskulatur und die Entlastung der Stimmbänder.

Übungen hierzu wären etwa:

– Das Stehen auf einem Luftsitzkissen zur Anregung der Flanken-, Bauch- und Rückenmuskulatur. Es wird oft in der Gesangspädagogik eingesesetzt.

– Das Anheben eines Knies beim Singen, bewirkt eine Dehnung und einen Zug im unteren Rückenbereich, der atemstützend wirkt.

– Zu einem ähnlichen Zweck kann man auch versuchen beim sitzenden Singen seine Beine anzuheben.

– Daneben gibt es zahlreiche Übungen mit Expander und Gummibändern, um am Aufbau einer Atemstütze beteiligte Muskeln zum Stützen anzuregen. Sie alle gehen weniger brachial vor als die das Vorgehen bei der vorangegangenen Methode.

Usw.

 

 

Ansatz 3: Stützen aufgrund aktiv geführter muskulärer Prozesse im Körper

 

            Einen sehr viel schnelleren Zugang zum Aufbau von Atemstütze gewähren Übungen, mit denen man aktiv die Einatmungsmuskulatur offenhalten oder öffnen kann. Der Effekt hier ist oft sofort spürbar, der Zugriff auf den Ton direkt. Insofern klingen auch solchermaßen gestützte Töne konzentrierter als solche, die durch die folgenden Methoden gestützt werden.

            – Dehnung und Zug im Bauch: Eine Richtung der Annäherung zur Atemstütze über muskulär geführte Prozesse im Körper führt über die Bauchmuskulatur: Der Bauch unter den Rippen bleibt in einer geweiteten Einatmungshaltung, während am Schambein ein aktiver Zug nach innen stattfindet. Andere arbeiten auch mit einer ansatzweisen Einrollung des ganzen Körpers nach vorne bei gleichzeitiger Vornestellung des oberen Bauches. Über diese direkte Form der Zugriffs auf ein gestütztes Singen lässt sich Schülern schnell ein prinzipielles Gefühl vermitteln, wie sich Töne aktiv führen lassen.

            – Dehnung aus der Seite: Dass der zuletzt genannte aktive Dosierung des Atems zum Zweck der Tonproduktion nicht unbedingt Bestandteil der Stütze sein muss, dokumentieren repräsentative Zitate von Nicolai Gedda und Lili Lehmann. Gedda kommentiert:„Bei der Atemstütze, dem Appoggio verwende ich beim Singen nicht die Bauchmuskeln, ich stütze den Ton mit dem Zwerchfell direkt unter den Rippen. Die Bauchmuskeln spanne ich bei der Atmung weder an, noch kümmere ich mich um irgendeine untere Bauchmuskelpartie beim Stützen“[16].

Und Lili Lehmann beschreibt in ihrem Gesangslehrbuch ihre Stütztechnik so: „Das Zwerchfell ziehe ich bewusst kaum ein, den Bauch niemals, fühle den Atem sich in den Lungen blähen, die oberen Rippen sich dehnen. Ohne die Brust besonders zu heben, treibe ich den Atem gegen die Brust und halte ihn so hier besonders fest“[17]. Es ist also, wie allein diese Zitate schon zeigen, offenbar möglich, im Rippenbereich oben wie unten eine Dehnung herzustellen, die für das Stützen von Tönen fruchtbar gemacht werden kann. Von Barbara Böhi lernte ich das schöne Bild kennen, sich die Stimmbänder zwischen den Rippen vorzustellen und von dort aus zu singen.

Aber eine gute Atemstütze ist wohl auch möglich sowohl ohne Bauch- als auch ohne Flankenstütze. Paul Bruns, einer der richtungsweisendsten Gesangspädagogen der 1920er Jahre schreibt hierzu: „Man beachte die Italiener, wie sie manchmal auf offener Szene (Caruso, Bonci) gerade die Bauch- und Flankenmuskeln durch entspannende Mitbewegungen relaxieren, um die motorischen Kräfte des Zwerchfells nicht zu lähmen“[18].

            – Dehnung aus den Flanken: Viele arbeiten mit einer Dehnung der Flanken unterhalb der Rippen oder sogar auf die Dehnung der Lenden. Sie dehnen dort mit dem Ziel, die entweichende Luft zu halten.

            – Dehnung im Rücken: Manche Schulen konzentrieren sich vor allem auf das Gefühl von Öffnung im unteren Rückenbereich, von wo aus ebenfalls die Dosierung des Atems gut gelingt. Auf diese Methode schwört etwa der Gesangspädagoge Richard Brünner: „Der Sänger findet in der Bauchhöhle nur hinten, an der der Lendenwirbelsäule und im Becken, verbunden mit der unteren Rückenmuskulatur den sängerischen Halt. Der ‚Po‘ hat durch leichte Anspannung immer mitzusingen! Im vorderen Teil der Bauchhöhle herrscht Lockerheit, das Gefühl der Balance und Elastizität… Nie darf die Kraft vorne angreifen, sondern immer nur hinten, dort, wo der Möbelpacker die Summe seiner unteren Rückenmuskeln anspannt, um eine Klavier zu tragen“[19].

In eine ähnliche Stossrichtung zielt wohl auch die Anweisung, die Nieren offenzuhalten.

Durch die Koppelung eines bewusst tiefgestellten Brustbeins und der Anweisung, dass sich Brustbein und unterer Rückenbereich diagonal im Körper näherkommen sollen, wir ein recht starker und effektiver Stützzug ausgelöst.
– Dehnung des Beckens: Immer wieder wird auch eine Dehnung des Beckens angestrebt, mitunter ein gewisses „Klogefühl“ zum Singen beschworen.

Die genannten Formen willentlich aktiver Muskelarbeit zur Bewirkung von Atemstütze sind nicht nur getrennt anwendbar. Denn man kann das eine tun und das andere nicht lassen. Die unterschiedlichen aktiven muskulären Tätigkeiten, die die Atemstütze hervorrufen sollen, können auch kombiniert werden.

Zur Dehnung der einzelnen Muskelgruppen bietet Heinrich von Bergen Übungen an. Z. B. Arbeitet er mit einem Fahrradschlauch, in den man sich hineinlegt und dann in die entsprechenden Stellen, die man zwecks Aufbau der Atmung und die Dehnung während des Singens hält bzw. noch verstärkt[20].

 

 

3.2.3.2. Ansätze über das vegetative Nervensystem

 

Bei den zuvor beschriebenen Methoden wurde damit gearbeitet, einen körperlichen Prozess aktiv willentlich herbeizuführen. Allein dadurch sind große Ergebnisse beim Singen im Hinblick auf den Aufbau der Atemstütze erreichbar. Aber wir haben schon bei der Atmung gesehen, dass sich viele muskulären Prozesse dem aktiv willentlichen Zugriff entziehen, da sie über das vegetative Nervensystem gesteuert werden. Bilder, Vorstellungen, Emotionen und Ähnliches provozieren mitunter von selbst muskuläre Prozesse, die wir nicht durch ein direktes Kommenado an die entsprechenden Muskeln in gleicher Weise und wenn überhaupt herstellen können. In diesen über das vegetative Nervensystem ausgelösten muskulären Prozessen steckt viel weiteres Potential zum Aufbau der Atemstütze.

 

 

Ansatz 4:  Stützen via vorbereitender Vorstellungen

 

Dieser Ansatz nimmt im Prinzip nochmals Bezug zum zweiten, allenfalls auch zum ersten Ansatz. Nur führen wir jetzt die muskulären Prozesse nicht durch aktives Tun herbei, sondern durch Vorstellungen und Erinnerungen. Wir haben hier also in gewisser Weise eine Schnittstelle zwischen aktiv willentlichen und vegetativ gesteuerten Prozessen.

Im Übrigen ist es ohnehin Ziel, die Atemstütze auf Dauer mehr und mehr dem vegetativen Nervensystem zu überlassen, also sie immer besser über körperliche Erinnerung abrufen zu können, ohne dass wir den Weg jedes Mal in allen Einzelheiten nachvollziehen müssten. Je mehr man sich auf welche Weise auch immer einen Zugang zum Stützen erarbeitet hat, desto leichter wird es mit der Zeit gelingen, seine Stützmuskulatur allein durch die Vorstellung an das Stützen aufzubauen.

Bis zu diesem Zeitpunkt (und auch später noch) können also Vorstellungen wie die folgenden zum Aufbau eines Stützgefühls hilfreich sein – beispielsweise:

– Stützen fühlt sich an wie Lachen oder Stöhnen im Beckenbereich.

– Anstelle auf einem Luftsitzkissen zu stehen, kann man sich auch bloß vorstellen auf einem schwankenden Boot auf einem See zu stehen und zu balancieren oder, wie es sich wohl anfühlt auf einem Seil zu balancieren. Der bloße Gedanke an solche Balanceübungen wird die Stützmuskulatur aktivieren.

– Man spüre die Atemmuskulatur, als wolle man Suppe kühl pusten

– Man stelle sich vor, in kühleres Wasser zu steigen

usw.

Das Prinzip dahinter ist das Innehalten, das Bewusstwerden vorweg, etwas zu spüren „als ob“ und es noch nicht zu tun. Solche Methoden werden auch bei Feldenkreis, in der Alexandertechnik und bei anderen Bewusstseins- und Körperschulungen gelehrt.

 

 

Ansatz 5:  Stützen aufgrund von Vorstellungen von Weite und Abstandsvergrößerung

 

Weit mehr entzieht sich der folgende Ansatz der willentlichen Kontrolle einzelner Muskelgruppen. Wir arbeiten nun mit der Vorstellung von Weite und Abstandsvergrößerung.

  1. B.:

– Man stelle sich vor, einen imaginären Abstand vom Kopf zur Decke nach hinten aufzubauen und lasse den Ton dann von dort aus gehen.

– Man stelle sich vor, einen imaginären Abstand hinter seinem Rücken auszubauen, um dann den Ton erst 100 m hinter sich nach hinten starten zu lassen.

– Man stelle sich vor, nicht der Körper singe, sondern eine imaginäre Aura um den Körper erklinge.

– Man stelle sich vor, man sei eine Riesenschildkröte und der Schild hinter eine dehne sich aus und singe.

– Man stelle sich vor, man spanne Flügel hinter dem Rücken auf, und singe dahinter.

– Man stelle sich vor ein Angler sitze 50 m schräg oberhalb hinter dem Kopf und angele die Töne und Phrasen.

– Usw.

Alle diese Vorstellungen bewirken das Gefühl von Weite im Körper, halten Resonanzen offen, öffnen mitunter gut das Gaumensegel für die oberen Nasenraum- und Stirnraumresonanzen. Vor allem aber bringen sie den Körper als Ganzes in einen guten Stützmodus.

Nach meinem eigenen Eindruck klingen Töne, die aktiv willentlich direkt geführt werden, von Natur aus konzentrierter, als Töne die über die Vorstellung von Weite gesungen werden. Solche empfinde ich als weicher, offener, geschmeidiger. Man kann solches und solches wollen. Ich höre das besonders in der Rückspiegelung durch meine Chöre.

Ich selbst habe die letzten Jahre zum überwiegenden Teil nach diesem Ansatz Singen gelernt.

 

 

Ansatz 6: Stützen aus dem Atemreflex heraus

 

            Eine prinzipiell andere Idee, als über das aktive Dehnen der Muskulatur und über das Gefühl von Weite und Abstand hinaus zum Stützen zu gelangen, geht über das Auslösen von Atemreflexen, die ich oben schon im Hinblick auf die Tiefatmung thematisiert und mit der ich selbst viele gute Erfahrungen gemacht habe. Man macht sich dabei wieder einen weiteren natürlichen körperlichen Prozess zunutze.

Man löse nach einem der oben beschrieben Bilder (Lauschen, Staunen, Perückerutschen, Platz hinter den Augen schaffen, Kiefer fallen lassen, in die Ganzkörperstreckung gehen usw.) oder weiterer Bilder oder Körperaktionen einen passiven Aufatmungsreflex aus und beginne, noch während sich der Körper dehnt, mit dem Singen, sodass sich zwischen Ausatmungstendenz der Luftabgabe und noch aktivem Zug des Reflexes eine Gegenspannung ergibt. Man achte auf die Bewegungsrichtung, die die Muskeln beim Aufatmungsreflex nehmen und lasse seine Töne gewissermaßen genau auf dieser Bewegung tragen. Dabei versuche man die ausgelöste Muskelbewegung genau zu spüren und den Ton davon wie passiv ziehen zu lassen.

Wichtig ist es, gewissermaßen den „Peak“ nicht zu überschreiten und nicht zu lange abzuwarten, bis man mit dem Singen beginnt. Denn wenn man zulange mit dem Einsatz wartet, hat sich die Bewegung bereits totgelaufen und wird einen nicht mehr in der Weise tragen können, wie das kurz vorher noch der Fall sein konnte. Die natürliche Dauer des Atemreflexes beträgt vielleicht eine bis eineinhalb Sekunden, so sollte man nach etwa zwei Drittel der Zeit zu Singen beginnen, um die beste Wirkung zu erzielen.

Der Effekt eines gelungenen Singens auf der Reflexbewegung ist ein noch weicherer, fülligerer Ton als bei der aktiven Stützdehnung mit der Bauch-, Rücken- oder Flankenmuskulatur und als bei der Vorstellung von Weite und Abstand heraus.

 

 

Ansatz 7: Stützen vermittels Affekte und Emotionen

 

Eine weitere Möglichkeit, die Stützmuskulatur zu aktivieren liegt im Singen mit Affekten und Emotionen. Jede Emotion bewegt etwas im Körper, daher wohl auch der Name

Jeder ausgebildete Sänger weiß, wie wichtig das Singen mit Emotionen ist, nicht nur um die Zuhörer zu bewegen, sondern auch um selbst in einen guten Körpertonus zu gelangen. Wie sehr Emotionen das Singen tragen können, leben uns viele Völker auf der Welt vor. Jedes Volk auf der Welt hat von alters her seine guten Sänger, die es verstanden haben, mit Inbrunst zu singen und dabei doch ihre Stimme ein Leben lang gesund zu halten. Die spezielle Art zu singen, wurde dort in den wenigsten Fällen unterrichtet, sondern einfach in den meisten Fällen von klein auf imitiert. Und oft genug wurde eine spezielle Art zu singen auch aus Leid und einer Notsituation geboren. Man denke an den typischen und durchaus dem Aufbau der Atemstütze helfende Soul der Schwarzen.

Emotionen wie Schmerz, Freude, Verzückung, Inbrunst, Verzweiflung, Eifersucht, Wut usw. bewirken alle schon bis zu einem gewissen Grad eine Form natürlicher Atemstütze. Sie provozieren von Natur aus schon eine erhöhte Gegenspannung von Stützmuskulatur und dem Wunsch seine Luft loszuwerden, gewissermaßen „die Luft rauszulassen“. Natürlich kann man sich auch vor Wut heiser schreien. Aber eine bloß gehobene Stimme im Zustand der Wut wird von Natur viel gestützter sein, als die einer beiläufigen Unterhaltung.

Man kann für die Arbeit mit der eigenen Stimme und mit der von Schülerinnen daraus u. a. Gewinn ziehen, dass es einerseits nützlich ist, die authentische Stimmungslage zu suchen und emotional wiederzugeben. Anderseits kann man das Phänomen auch vorbereitend ausnutzen und ein Stücke mit allen möglichen passenden und unpassenden Emotionen durchzusingen versuchen. Allein das kann helfen, eine grundlegendes Stützgefühl im jeweiligen Stück aufzubauen.

Doch Vorsicht: das Singen mit Emotionen ist nur bedingt zum Aufbau der Atemstütze einzusetzen. Man kann auch trotzdem technisch viel falsch machen und sich dabei versingen.

 

 

3.2.3.3. Ansätze vom Phänomen ausgehend

 

Ich habe oben schon beschrieben, dass das Credo etlicher bekannter Operngrößen ist, Stütze nicht aktiv zu lernen, sondern diese sich durch musikalische Zielvorstellungen, durch Besinnung auf Resonanzen oder auf physignomische Abläufe in der Kehlregion passiv entstehen zu lassen. Der Aufbau der Atemstütze wird dabei also vom Phänomen her intendiert. Aber selbst wenn man nicht von solchen Maximalforderungen ausgeht, werden wahrscheinlich die meisten Gesangspädagogen in der ein oder anderen Form von dieser Art, Stütze aufzubauen, tatsächlich auch Gebrauch machen.

 

 

Ansatz 8: Aufbau von Stütze über den Versuch, stimmliche und musikalische Anweisungen zu befolgen

 

Die Anweisung, Stütze von musikalisch-interpretatorischen und klanglichen Zielvorstellungen aufzubauen steht hierbei erst ganz am Schluss. Viel früher und elementarer greifen Anweisungen im Gesangsunterricht, mit denen ständig gearbeitet wird:

– Einem Schüler zu sagen, Töne nicht von unten anzusingen, fordert ihn vom Phänomen her kommend auf, mehr Stützenergie aufzubringen. Besonders eindrücklich geschieht dies oft bei Ketten von gleichbleibenden Tönen, die die Schüler gerne zunächst alle konstant von unten ansingen. Die reagierende Anweisung, die Töne alle auf einer Tonhöhe zu belassen, zwingt die Schüler schon zum besseren Stützen, wie auch immer sie das bewältigen –  im Idealfall mit einem besseren Körpertonus und nicht durch mehr Drücken aus Hals und Kiefer heraus.

– Sich darauf zu besinnen, einen Ton möglichst gleichbleibend und lang zu singenoder eine Phrase –  ohne die Kehle enger einzustellen –  auf einen Atem zu bewältigen, zwingt einen dazu, seinen Atem vermittels einer Form der Atemstütze zu dosieren, welchen Weg man auch immer zu diesem Zweck beschreitet.

– Ausgesprochen nützlich zum Aufbau von Stütze über das Phänomen her sind Dynamikübungen mit Schwelltönen. Besonders die Arbeit an einem gut geführten Decrescendo erfordert von den Singenden eine große Konzentration und schult das Stützen ungemein, zu welcher Form auch immer man hier greift.

– Ein viel zu beobachtendes Phänomen ist, dass die einzelnen Töne in einer Phrase nicht richtig ausgesungen werden oder dass die Vokale zu früh lasch werden und ihre Farbe verlieren. Macht man darauf aufmerksam und drängt auf ein gutes Aussingen und ein Halten der Vokalspannungen bis zum Schluss, wird zwangsläufig ein höherer Körpertonus und eine bessere Atemstütze aufgebaut, welcher Weg nun auch hier wieder dazu gewählt wird.

– Auch ohne Interpretation und Emotionen interpretiert folgt zumindest die traditionelle Musik einer quasisprachlichen Grammatik. Singen von Phrasen im Bewusstsein, Betonungen zu setzten, Bögen zu singen, Höhepunkte anzusteuern usw.,  verlangt dem Körper vom Phänomen her kommend ein gewisses Maß an Atemstütze ab bzw. provoziert ihn dazu.

– Usw.

 

 

Ansatz 9: Aufbau von Stütze über die Freiheit der Kehle und der umgebenden Region

 

Ein eindeutiger Ansatz, Stütze vom Phänomen her lernen zu müssen, lernte ich im Unterricht bei Ivan Konsulov und bei weiteren Hospitation dort kennen. Sein (und nicht nur sein) Credo ist wie oben schon beschrieben, dass Stütze nicht aktiv gelehrt wird, sondern sich von selbst immer mehr herausbilden soll durch eine ständige Besinnung auf die Freiheit der Kehle und die umgebenden Regionen wie Kiefer, Zunge, Schultern und Brust. Eine hilfreiche Vorstellung dazu ist, dass in dem Bereich alles offen und locker ist und permanent wie Wasser nach unten fließt. Dadurch werden den Schülern praktisch alle üblichen Hilfsstützen entzogen. Der Singende wird nun förmlich dazu gezwungen, dass er sich zur Aufrechterhaltung dieser Phänomen die Mittel zum Stützen im Körper irgendwo selbst suchen muss. Dies ist ist durchaus beabsichtigt. Der Schüler soll sich seinen eigenen individuellen Weg, der speziell zu ihm am besten passt, suchen.

Ich kann vorerst noch nicht beurteilen, inwieweit dieses Konzept aufgeht.

 

 

Ansatz 10: Stütze als Folge klanglicher Vorstellungen

 

Jeder Klang ist ein Spannungszustand. Jede Resonanzgebung und Abmischung wird durch eine Intensität von Muskelspannungen und Geschwindigkeit des Atemflusses bestimmt. Auf diese Weise wird verständlich, warum man auch die Stütze von der klanglichen Vorstellung aufbauen kann.

In der Ausbildung als Chordirigent wurden wir oft darauf hingewiesen, dass die Besinnung auf ein klangliches Endergebnis, dass man als Chorleiter vorweghören muss, maßgeblich auch den Körpertonus beeinflusst. Je besser die klanglichen Zielvorstellungen, desto zielgenauer auch der Aufbau der dazu nötigen Stütze für die Sänger. Natürlich wird hier ein relativer Vorgang beschrieben. Das Endergebnis wird in einem Laienchor zwangsläufig anders ausfallen als in einem Profichor.

Die gleiche Stoßrichtung, die Aufmerksamkeit auf die Resonanzgebung zu lenken, um Stütze beim Sologesang aufzubauen, hat im Prinzip die bereits oben zitierte Aussage Carusos: „Mein Grundsatz ist daher, dass der richtige Stimmsitz beim Singen die richtige Atemstütze hervorbringt und nicht umgekehrt.“

 

 

 

Ansatz 11: Stütze als Folge musikalischer Endvorstellungen und Interpretation

 

Diesen Ansatz nenne ich ganz zum Schluss. Er ist  ein Traum und steht allenfalls am Ende einer langjährigen Ausbildung. Und selbst dann lässt er sich immer noch weiter ausbauen. Schön wäre es für jeden Sänger und Schüler, wenn er von Anfang an nur Musik machen könnte und sich dabei alle Probleme des Stützens gleich von selbst lösen würden.

Das beharrliche Üben von Stücken über Jahre hinweg und der Ausbau musikalischer-interpretatorischer Intentionen dabei wird die Stütze aber immer mehr selbstständig schulen, wenn man nicht vorher einen ungünstigen Weg eingeschlagen hat, in den man sich möglicherweise bis hin zum Stimmruin verrennt. Spürt man die Musik durch und durch und hat den starken Willen, sie ausdrucksreich zu interpretieren, wird der Körper im Idealfall durch eine gute Atemstütze im Laufe der Jahre immer besser folgen.

 

 

3.2.4. Unterstützende Wege zum Aufbau der Atemstütze:  Kräftigung und Kontrolle der Atemmuskulatur

 

Es ging mir in dieser Arbeit darum, prinzipielle Weg zur Atemstütze aufzuzeigen. Anfügen könnte man noch Wege, wie man den Ausbau der Stützfunktion unterstützend begleiten könnte. Hier gibt es im Prinzip an (mindestens) zwei Stellen die Möglichkeit, unterstützende Übungen anzubieten, die nicht im Singen selbst begründet sind. Sie möchte ich zumindest noch erwähnen.

Zum Einen kann zwar der Schüler die Vorgänge begreifen. Er wird aber feststellen, dass ihm oft zunächst die Kraft in der Muskulatur fehlt, um Führung des Atems und Offenhalten der Atemräume zu bewältigen. Damit einher geht zum Zweiten, dass die Führung am Anfang noch schwer gelingt, weil es noch schwer ist, den Luftstrom gezielt zu steuern, um einen gleichbleibend schwingenden Ton zu erzeugen. Übungen zu beidem zu sammeln, wäre hier noch ein Schritt für die Zukunft.

Zunächst zur Frage der Kräftigung der Atemmuskulatur.

Hier wäre zu klären, ob nicht das externe Training der Bauch-, Rücken- und Flankenmuskulatur, die an der Stütze beteiligt sind, im Fitnessstudio oder bei sonstigem Sport  nützlich für das Singen ist. Die Frage ist umstritten. Der zitierte Opernsänger Ivan Konsulov, der 40 Jahre auf der Bühne stand, empfiehlt dies. Für eine gute Kondition auf der Bühne sei Vergleichbares unabdingbar notwendig. Die Stützmuskulatur könne dadurch gestärkt werden. Andere warnen vor einer Verfestigung der Bauch, Flanken und Rückenmuskulatur durch übermäßiges Trainieren mit den im Fitnessstudio üblichen Übungen. Fitnessübungen trainieren möglicherweise einen Muskel sehr, einen anderen, der an der gleichen Form der Atemstütze beteiligt ist, aber überhaupt nicht.

Von Gesangspädagogenseite werden gezielte Übungen empfohlen, z. B.:

– Man lege schwere Bücher oder einen Instrumentenkasten im Liegen auf den Bauch und versuche sie mit dem Bauch wegzudrücken.

– Andere Übungen arbeiten mit bewussten Widerständen in den Bereichen, die für die Stützung der Töne fruchtbar gemacht werden sollen (z. B. ein Gummiband oder einen Fahrradschlauch wegdrücken).

– Nützlich sind auch Atemkompressionsübungen: Hier ist ein guter Griff, um Schaden von den Stimmbändern abzuwenden, zunächst einmal einen Atemstau dadurch zu erreichen, in dem man die Luft gegen den geschlossenen Mund presst oder sie von jenem weg zieht. Die Übungen funktionieren also vorwärts wie rückwärts: den Atem ausdrückend oder anziehend. Die Stützmuskulatur in Bauch und Flanken wird hier sehr gefordert.

– Man kann auch energische Blasbewegungen zur Kräftigung der Stützmuskulatur üben, z. B. Kerzen auspusten. Auch hierdurch wird die Stützmuskulatur unmittelbar gekräftig.

Das Zwerchfell selbst ist ein Muskel der sich der bewussten Steuerung entzieht. Aber man kann ihn erfahrbar machen und trainieren.

– Eine brachiale Methode (und fraglich im Hinblick auf die Gesundheit) ist das längere Luftanhalten, auf welches die Atemmuskulatur und das Zwerchfell nach einer gewissen Zeit durch energischer werdenden Zug reagieren.

Bei weiteren Übungen geht es darum, die gleichmäßige Atemdosierung trocken zu üben. Auch diese kräftigen gleichzeitig die Atemmuskulatur und macht sie fit für einen besseren Gebrauch beim Singen. Z. B.:

– Man versuche die Flamme einer Kerze durch Pusten immer in der gleichen Schrägstellung zu halten.

– Man hauche an eine Fensterscheibe und versuche, den Beschlag immer gleich zu halten.

– Man blase mit einem Strohhalm in eine Flüssigkeit und versuche immer die gleiche Blasenmenge zu erzeugen

– Eine noch genauere Rückmeldung erlaubt folgende Übung: Man blase in eine durchsichtige Plastikröhre aufwärts und versuche eine Feder ständig in gleicher Schwebe zu halten.

Mehrfach bin ich im Lauf der letzten Jahr auf diese Übung gestoßen: Am Anfang atmet man 3 Sekunden aus (oder spricht einen Zischlaut), dann bleibt man 3 Sekunden mit dem Atem stehen, atmet danach 3 Sekunden wieder ein, um im Anschluss 3 Sekunden einzuatmen. Nach und nach wird die Länge auf 4 bis 6 Sekunden erhöht. Nach einer Weile gerät man außer Atem und das vegetative Nervensystem wird versuchen, den Atem zu normalisieren. Man spürt wie große entgegengesetzte Kräfte quasi an der Muskulatur ziehen. Das Zwerchfell bzw. die es umgebende Muskulatur zeigt sich nach einiger Zeit muskulär gestresst. Bei dieser Übung arbeitet man also zwecks Kräftigung der Atemmuskulatur aktiv willentlich gegen die natürlichen Impulse des unbewussten vegetativen Nervensystem.

 

Literaturverzeichnis:

Bergen, Heinrich von: Unsere Stimme – ihre Funktion und Pflege II, Die Ausbildung der Solostimme. 3. Auflage, Bern 2006.

Brandt-Sigurdsson, Gunnar: Minimalluft versus Stauprinzip, Diplomarbeit. Bremen 2001.

Bruns, Paul:  Carusos Technik in deutscher Erklärung, 1922, hrsg. v. Max Hörberg, Berlin 2009.

ders.:  Minimalluft und Stütze. Berlin 1929.

Brünner, Richard: Gesangstechnik. Regensburg 1985.

Habermaas, Günther: Stimme und Sprache. Stuttgart 1978.

Paul Lohmann: Stimmfehler, Stimmberatung. Mainz 1938. 1966, 2009.

Kaspar, Hans-Josef: Sängerschulung – Körper, Atem- & Stimmübungen. Otzenhausen 1995.

ders.:  Singen und Flugzeuge, Stimmhygiene und Stimmregeneration mit dem Bernouli-Effekt, Otzenhausen 2008.

Middendorf, Ilse: Der erfahrbare Atem – eine Atemlehre. Paderborn 1984.

Pezenburg, Michael:  Zur Frage der Systematisierung und Standardisierung stimmbildnerischer Übungen auf der Grundlage gesangspädagogisch wie gesangswissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse von methodischen esetzmäßigkeiten der Stimmbildung für die stimmbildnerische Grundlagenarbeit in Schule, Chor und Soloausbildung – Dissertation zur Erlangung  des Doktorgrades der Philosophie des Bereichs Erziehungswissenschaft der Universität Flensburg 2005.

Schmidinger, Josef:Biodynamische Stimmbildung. Wien 1984.

Stark, James: Bel Canto – A History of Vocal Pedagogy. Toronto 1999.

Wagner, Max: http://www.gesangsunterricht-muenchen.net/

 

[1]    Z. B. Habermaas 2006 (S. 130), Brunner 1984 (S.22), http://de.wikipedia.org/wiki/Atemstütze usw.

[2]    Zitiert nach: http://www.gesangsunterricht-muenchen.net/atemstuetze-bauchatmung-zwerchfellatmung-singen-atemstuetze.html

[3]    Heinrich von Bergen, Unsere Stimme 2, S. 31f

[4]    Josef Schmidinger, Biodynamische Stimmbildung, S. 16

[5]    Ebd. S. 14

[6]    Ebd. S. 15

[7]    Ebd. S. 33

[8]    Zit. nach: http://www.gesangsunterricht-muenchen.net/atemstuetze-bauchatmung-zwerchfellatmung-singen-atemstuetze.html

[9]    Hans-Josef Kaspar, Sängerschulung. S. 27

[10]  Ebd. S. 5

[11]  Zit. nach: http://www.gesangsunterricht-muenchen.net/atemstuetze-bauchatmung-zwerchfellatmung-singen-atemstuetze.html

[12]  Lilli Lehmann: Meine Gesangskunst, S. 5

[13]  Kaspar, Singen und Flugzeuge S. 59

[14]  Nichtsdestotrotz war dies die erste Methode zu Stützen, die mir an der Musikhochschule von meinem ersten Gesangsprofessor vermittelt wurde

[15]  Paul Bruns, Carusos Technik, S. 6

[16]  Zit. nach: http://www.gesangsunterricht-muenchen.net/atemstuetze-bauchatmung-zwerchfellatmung-singen-atemstuetze.html

[17]  Lilli Lehmann, Meine Gesangstechnik, S. 5

[18]  Paul Bruns, Carusos Technik, S. 35

[19]  Richard Brünner, Gesangstechnik, S. 21

[20]  Vgl. Heinrich von Bergen, Unsere Stimme 2, S. 32ff

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