Rachmaninoff 7


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  1. Beurteilungskriterien: Tradition und Innovation versus Pluralismus und kompositorischer Identität?

 

Eine Analyse der Études-Tableaux erweist sich als sinnvoll, da die Untersuchung der wesentlichen kompositorischen Merkmale des Klavierzyklus (wie sein Aufbau, der Umgag mit dem Material und satztechnische, rhythmische, melodische sowie harmonische Eigenheiten) einerseits Aufschluss gibt über generelle zeitgeschichtlich bedingte Versuche, auf die nicht nur im Bereich der Musik eingetretenen kulturellen Veränderungen zu reagieren, andererseits auch musiktheoretische Erkenntnisse liefert hinsichtlich eines breitgefächerten Spektrums an klanglichen und strukturbildenden Möglichkeiten, bei denen Rachmaninoffs kompositorisches Geschick und seine starke Identität als Komponist sichtbar wird.

Die Études-Tableaux sind ein Stück Musik des 20. Jahrhunderts, nicht nur aufgrund des Zeitpunkts ihrer Entstehens. Sie enthalten kompositorische Elemente, die der Musik des 19. Jahrhunderts noch fremd sind und lassen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Tendenzen zu, die durchaus repräsentativ, wenn auch nicht ausschließlich für die damalige Zeit gewesen sind, wie z. B. Zwiespalt, Zweifel, das Festhalten an Altem, aber auch der Wille zu Entwicklung, die Suche nach einer klaren Identität und der Aufbruch zu Neuem: In den Etüden wird der Übergang von der Romantik zur so genannten Moderne deutlich. Sie als ein epigonales Werk zu bezeichnen, wäre eine Verkürzung des Sachverhaltes.

Rachmaninoff hat teilweise durch naive, unreflektierte und stark subjektiv gefärbte Aussagen und seine lebenslange Ablehnungshaltung der so genannten modernen Musik gegenüber Kritik ausgelöst und Vorurteile bestärkt (s. Kap. 1)[i]. Er ist aber seiner Haltung, so wie sie seinem eigenen Verständnis entsprach, was bereits in der Einleitung hinterfragt worden ist, weitgehend treu geblieben. Nichts deutet darauf hin, dass sich Rachmaninoff auf von außen motivierte Kompromisse eingelassen hätte, die seiner kompositorischen Intention widersprochen haben. Er hat sich der um 1910 in Russland vorherrschenden kompositorischen Richtung der so genannten Modernisten und ihren wortführenden Kritikern und Befürwortern, wie z. B. Karatygin und Sabanejew, deren Einfluss sehr hoch einzuschätzen ist, entgegen gestellt. Konkrete politische Aussagen hat Rachmaninoff aber in seiner Musik nicht machen wollen, und solche lassen sich nur indirekt aus dem kompositorischen Material erschließen, bei dem nationale, beispielsweise folkloristische und liturgische, also mittelbar auf politische oder ideologische Systeme hinweisende Elemente vorhanden sind, sowie aus Rachmaninoffs Weigerung, mit der der Tradition radikal zu brechen.

Rachmaninoff fordert die kontinuierliche Veränderung der musikalischen Sprache und nicht den Bruch mit der Tradition[ii]. Er versucht zwar in den Études-Tableaux seine Grenzen zu erweitern, aber im Rahmen der Sprache, die er als seine akzeptiert. Obwohl viele neuere und innovative Elemente in ihr vorhanden sind, sind sie doch in seinen Stil integriert: Es ist eine bruchlose Verbindung traditioneller und innovativer Elemente zu beobachten.

Er löst seine Forderung nach kompositorischer Meisterschaft ein als Qualitätsmerkmal von Musik und als Zielvorstellung, worauf kompositorische Bemühungen gerichtet sein sollten[iii]: Jede Étude-Tableau bildet ein in sich geschlossenes und schlüssiges musikalisches System. Bei den kompositorischen Prinzipien gibt es, wie dargestellt, Übereinstimmungen, die einen Personalstil erkennen lassen, aber auch zahlreiche Abweichungen: Jede Etüde bedient sich einer beschränkten Auswahl an Prinzipien im satztechnischen, melodischen, rhythmischen, formalen und, was besonders auffällig ist, auch im harmonischen Bereich. Die kompositorischen Grenzen sind hier jeweils genau abgesteckt und in ihrer Unterschiedlichkeit besonders auffällig. Auch die stilistische Variativität in der Musik Rachmaninoffs ist ein Merkmal seines Personalstils (s. Kap. 3.3.3.9. und 6.1.); sie steht für den Wunsch nach Erweiterung der musikalischen Sprache und widerspricht der These Rachmaninoffs als kompromisslos Konservativem, so wie er sich gerne selbst gesehen hat.

Dem Anspruch, musikalische Stimmungsbilder zu sein, werden die Etüden auf kompositorisch hohem Niveau gerecht. Es ist nicht, wie von Rummenhöller unterstellt, eine manipulatorische Absicht Rachmaninoffs in ihnen erkennbar[iv], denn etwas anderes als Charakterstücke, die Bilder assoziieren sollen, und darüber hinaus musikalische geschlossene Systeme sollen sie gemäß Rachmaninoff nicht sein.

Die von ihm proklamierte Vorrangstellung der Melodie setzt er in den Etüden kompositorisch um[v]. Inkonsequent erscheint hingegen die Beurteilung des Bereiches der Harmonik, dem in den Etüden der höchste Stellenwert zukommt. Dort erweist er sich als ein Meister der „Farben und Atmosphären“[vi], gegen die eigentlich seine eigene Polemik gerichtet ist (s. Kap. 1.).

Das Bild Rachmaninoffs ist von seiner Selbstsicht als Komponist und von seinem Anspruch an das eigene Schaffen stark beeinflusst worden. Dadurch ist bei der Rezeption seiner Musik der Aspekt des Verhaftetseins in der Tradition überbewertet worden.

 

Die Analyse dieser Arbeit hat die traditionellen und mehr innovativen Aspekte der Musik Rachmaninoffs am Beispiel der Études-Tableaux herausgearbeitet, und diese sind auf ihr Zusammenwirken hinuntersucht worden. Weitgehend vernachlässigt wurde dabei aber die Frage, welchen Stellenwert eigentlich die Kategorien traditionell und innovativ in der musikwissenschaftlichen Reflexion einnehmen und warum. Im Folgenden sollen Untersuchungsansätze, die sich auf diese Kategorien stützen, anhand einiger Hintergründe und Fragen relativiert und eventuelle Ergebnisse daraus auf die Erkenntnisse aus der Analyse der Etüden bezogen werden.

Die Frage nach Tradition und Innovation in der Musik berührt einen Teil der Frage nach dem Verständnis der europäischen Musikgeschichte überhaupt: Welchen Zweck verfolgt die Frage nach dem Innovativen in der Musik? Inwieweit wird Innovation wertfrei beurteilt? Welche Bedeutung kommt dem Innovativen überhaupt bei der Beurteilung von Musik zu? Worin sieht die Musikwissenschaft, was dies anbelangt, ihre Aufgabe: Soll sie versuchen, neutral zu sein – inwiefern geht das überhaupt? -, oder soll sie philosophische, gesellschaftskritische und ideologische Positionen vertreten?

Kurt von Fischer beschreibt den Willen „zum immer Neuen als eine spezifische Eigenheit der abendländischen Musikkultur“[vii]. Es ist der europäischen Musikgeschichte seit dem 14. Jahrhundert eigen, dass sie „als Ganzheit… vom Wechsel zwischen alt und neu“[viii] bestimmt wird. Die Bedeutung dieser Parameter für das europäische Denken in der Musik lässt sich anhand musikgeschichtlicher Stationen ablesen, die an Begriffen wie Ars Nova im 14. Jahrhundert, Le nuove Musiche für die Innovationen der Camerata Fiorentina um 1600 und Neue Musik für die Musik seit 1890 fest gemacht werden können. Außereuropäische Musiktraditionen, wie z. B. die orientalische oder die balinesische, sind dem Zwang zu ständiger Fortentwicklung nicht unterworfen[ix].

Als „Grundbegriff der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und des Geschichtsbewusstseins der bürgerlichen Gesellschaft“[x] gewinnt die Idee des Fortschritts – von Johannes Piersig unter der Formel „anders, neu, besser“[xi] subsumiert –  im 19. Jahrhundert in Europa immer größeren Einfluss, auch im Bereich der Musik. Sie wird zum Dogma und führt von Liszt bis hin zu Autoren, die über ’neue Musik‘ schreiben, zu einem Ausschließlichkeitsanspruch nur für konkrete Innovationen[xii]. Obwohl sich schon im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Vordenker der ’neuen Musik‘ wie Paul Bekker vom Fortschrittsgedanken distanzieren, das sich diese Musik nicht mehr als „entwicklungshafte Übersteigerung des Vorangehenden“ darstelle, sondern wieder „zur Kunst, wie sie vor jener Fortschrittszeit war“[xiii] zurückkehre, und wohl der Fortschrittsbegriff vielfach nicht mehr unbedingt „als ständige Weiterentwicklung verstanden wird“ – was sich im Wiederaufgreifen alter Stile in den so genannten „’Neo‘-bewegungen“[xiv] wie dem Neoklassizismus festmachen lässt – bleibt die Idee des Fortschrittsgedankens, mit dem der Begriff der Avantgarde korrespondiert, und das Verpflichtetsein der Innovation gegenüber latent oder offen auch bei Komponisten des 20. Jahrhundert präsent, wird aber auch von verschiedenen Seiten in Frage gestellt[xv]. Arvo Pärt z. B. proklamiertsubjektiv für seine Musik: „Die Wahrheit ist schon längst formuliert worden. Nur unsere fühllosen, erstarrten Augen und Ohren verlangen eine moderne Explosion“[xvi].

Die Vormachtstellung des Fortschrittgedankens im abendländischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts hat das Spannungsfeld von Tradition und Innovation zu einem wesentlichen Kriterium der Musikgeschichtsbetrachtung werden lassen. Die Fixierung auf den Fortschrittsgedanken hat dazu geführt, dass die musikgeschichliche Betrachtung heute noch selektiv ist. Zahreiche parallele musikalische Stilrichtungen und Komponisten bleiben davon weitgehend ausgeklammert oder werden gar verurteilt (wofür im deutschsprachigen Raum Rachmaninoff nur ein Beispiel ist). Hörer und Liebhaber dieser Musik werden disqualifiziert[xvii], und eine Reflexion qualitativ hochwertiger, geistreicher, komplexer oder nach anderen Bewertungsmaßstäben messbarer Musik unterbleibt, was eine erhebliche Einschränkung darstellt. Rachmaninoffs Musik kann sich zwar durchaus, wie gezeigt worden ist, an den Kriterien des Innovativen messen lassen, nur in ihrem Ausmaß fallen diese weit hinter zeitgleiche Bestrebungen anderer Komponisten nicht nur in Russland zurück.

Qualitativ gute Musik muss nicht selbstverständlich mit innovativem Schaffen, also der Überschreitung bisheriger Grenzen, einhergehen. Die Notwendigkeit dazu rechtfertigt sich auch nicht per se, sondern wird von Standpunkten aus gefordert, die Ergebnis von Reflexion sein können (oder auch nicht). Arnold Schönberg beispielsweise bezieht hinsichtlich des Komponierens von neuer Musik folgende Position:“Man muss nicht sagen, was schon lange nicht gehört wurde (so wie in der Mode), sondern: was noch nie gesagt wurde – oder wenigst noch nie so gut“[xviii] und ähnlich Karlheinz Stockhausen: „Neue Musik sagt, wen sie gut ist, neue Wahrheiten“[xix].

In beiden Fällen wird absolut Neues gefordert, und das ist zumindest eine Bedingung für gute neue Musik. In einem Punkt sind diese Aussagen aber neutral, denn sie gehen nicht so weit wie entsprechende Forderungen Adornos, wo gut neue Musik darüber hinaus von der Materialfrage abhängig gemacht wird. Adornos eingeschränktes Ideal, was das Material anbelangt, ist nach seiner Philosophie der neuen Musik[xx] die freie Atonalität in Schönbergs Musik während einer begrenzten Schaffensphase. Selbst die von jenem entwickelte Zwölftonmusik bedeute eine zu große Einschränkung[xxi].

Das Material ist es auch im wesentlichen, warum Rachmaninoffs Musik von der deutschen Musikwissenschaft, nicht nur von Adorno, abgelehnt oder kaum Beachtung geschenkt wird. Dieses hat bei Rachmaninoff in Gestalt eines romantischen Akkordepertoires, die gepaart ist mit einer kantablen Melodik, Missverständnisse hervorgerufen, wonach seine Musik weitgehend unreflektiert nur der Romantik zugeordnet wird. Die Analyse hat aber gezeigt, dass Rachmaninoff meist dem Material sehr differenziert umgeht und neue, der Spätromantik unbekannte Beziehungen schafft, also eigentlich auch innovativ ist. „Die entscheidende Frage für die stilkritische Analyse heißt daher nicht nur: welche Akkorde kommen vor, sondern: welche Klangverbindungen sind charakteristisch“[xxii], kommentiert Zsolt Gárdonyi das Materialproblem.

Ob Rachmaninoff „neue Wahrheiten“[xxiii] sagen will, bleibe dahingestellt. Er begreift Musik mehr als seine individuelle Sprache, und es scheint, dass er mit ihr vor allem seine für sich erkannten, subjektiv gefärbten Wahrheiten und Fragen aussprechen will; aber welche Wahrheit kann von sich überhaupt in Anspruch nehmen, letztlich nicht subjektiv zu sein?

Bei einer Gegenüberstellung zeitgleicher kompositorischer Erscheinungen wird häufig ebenso wenig wie bei Bewertungen hinsichtlich der Musikgeschichtsbetrachtung differenziert. Ein Blick auf die unterschiedlichen Gründe, die zu innovativem kompositorischen Schaffen führen mögen, setzt zumindest ein Fragezeichen hinter eine eventuelle selbstverständliche Annahme, innovative Musik, die womöglich mit Traditionen bricht, sei qualitativ höher zu bewerten als solche, die mehr der Tradition verbunden bleibt. Die Erkenntnis der unterschiedlichen Entstehungsbedingungen von Innovativem und unterschiedlicher Motivationen für innovatives Komponieren könnte zu einer neutraleren Position bei der Beurteilung von Musik führen und den Weg zu größerer Toleranz und Anerkennung, möglicherweise zur Rehabilitation vieler nebeneinander bestehender Musikformen ebnen, auch der mehr in der Tradition verhafteten.

Die Entstehungsbedingungen von Innovativem können das Ergebnis von vorangegangener oder begleitender Reflexion sein. Innovation kann aber auch auf Zufall, Spontaneität, Ausprobieren und intuitivem Vorgehen beruhen. Eventuell führt ein unbewusster oder bewusster Fehler dem ursprünglichen Regelsystem gegenüber dazu, dass eine Idee zu Neuem geboren wird.

Die Motivation kann sein: das Ergebnis einer Reflexion, aus deren Endergebnis sich für den Nachdenkenden die Konsequenz ergibt, nach neuen Wegen zu suchen, z. B. um kulturellen und gesellschaftspolitischen Zielen Ausdruck zu verleihen oder um Vordenker einer Zeit zu sein. Hiebei wäre allerdings zu fragen, ob der beschrittene Weg geeignet ist, das Ziel bei denen zu erreichen, die zum Nachdenken aufgerufen werden sollen. Die Motivation für innovatives Komponieren kann auch sein: der durchdachte oder intuitive Protest gegen Bestehendes, z. B. einhergehend mit einem allgemeinen Generationenkonflikt oder der Zuspitzung politischer Verhältnisse – beides dürfte für die so genannten Modernisten in Russland um die Jahrhundertwende zutreffen.

Sie kann auch sein: die Neugierde und der Wille, vorhandene Grenzen zu überschreiten oder sich frei von historischen Zwängen auszudrücken, die Unzufriedenheit, bei bisher Erreichtem stehen zu bleiben oder der Wunsch nach Beachtung und Anerkennung. Sie kann aber auch sein: Geltungssucht oder der fremdgesteuerte Zwang, einer ideologischen Forderung zu gehorchen, wobei der Handelnde Sklave zum Beispiel des Fortschrittgedankens ist, da er dessen Sinn und Entstehung nicht reflektiert hat, sich ihm aber verpflichtet fühlt.

Ideen und Vorschläge zur Weiterentwicklung von Musik können auch von außen, z. B. durch das Nachdenken im Bereich der Musikwissenschaft, kommen. Das wirft die Frage auf, ob derjenige, der solche neuen Vorschläge als erster kompositorisch umsetzt, überhaupt innovativ ist oder innovativer als derjenige, der erst später auf ähnlichen Ideen aufbaut, diese aber konsequenter und auf einem höheren Niveau kompositorische umsetzt..

Zur Rolle des Traditionellen in der Musik wäre zu fragen: Wenn Altes in der Musik durch Innovation überholt wird, wird dies dann dadurch weniger wert oder ungültig, selbst wenn in zeitgenössischer Musik noch damit gearbeitet wird? Auch die Beschäftigung mit Altem und vielleicht längst in Vergessenheit Geratenem kann fruchtbringend im Sinne des Innovativen sein. Alters zu verbessern trachten, noch neue Wege innerhalb eines vorhandenen Rasters zu suchen oder Verbindungen von altem und neuem zu schaffen, können legitime Motivationen für einen Kompositionsstil in Anbindung an die Tradition sein, der nicht nur wiederholt und epigonal ist. Denn innovativ ist nicht allein das, was sich von dem abhebt, was es in der Vergangenheit gegeben hat, innovativ ist auch das, was etwas bereits Vorhandenes weiterentwickelt oder perfektioniert. Dazu ist auch der Klaviersatz Rachmaninoffs zu rechnen, der seine Wurzeln in dem der bedeutenden romantischen Vorläufer, wie z. B. Liszt, Chopin und Tschaikowsky hat, damit in Einklang seine Fähigkeit orchestrale Farben auf dem Klavier herzustellen und die Weiterentwicklung der pianistischen Spieltechnik.

Seit der Wende zum 20. Jahrhundert wird von Komponisten, Theoretikern und Befürwortern von zeitgenössischer Musik der Anspruch erhoben, diese müsse nicht mehr für einen Hörer oder ein breites Publikum geschrieben werden[xxiv]. Das erweist sich als sinnvoll im Bestreben, unabhängig von äußeren Zwängen neue Musik zu schaffen und, aus welcher Motivation auch immer heraus, innovativ zu sein. Karatygin, der führend Kritiker der Modernisten, sieht dies ähnlich: „Alles ist erlaubt – von Spiegelkanons bis zu Tristan und weiter. Möge jeder frei und selbstständig auswählen, verändern, neue Arten von Bindung schaffen“[xxv].

Diejenigen, die Musik unabhängig von Bedürfnissen des Publikums sehen, müssen aber mit dessen Kritik rechnen und sollten sich dieser nicht einfach verschließen, in dem sie das Kann, nicht mehr für die Öffentlichkeit zu schreiben, ideologisch zum Muss erklären, wie Rummenhöller es tut, der Rachmaninoffs Musik Minderwertigkeit unterstellt und sie auf den materialistischen Stand einer Ware reduziert, weil sie seiner Meinung nach vom Geschmack des Publikums diktiert sei. Es stehen sich – einhergehend mit dem allgemein verständlichen menschlichen Bedürfnis nach Musikkonsum – möglicherweise unterschiedliche ideologische Positionen gegenüber, die nicht per se Anspruch auf eine letzte Wahrheit haben. Es ist nicht zwangsläufig ein Gütesiegel für Musik des 20. Jahrhunderts, wenn sie von einem breiten Publikum nicht verstanden wird, genauso wenig wie es ein negatives Kriterium für Musik des 20. Jahrhunderts sein muss, wenn sie jenem gefällt und von ihm akzeptiert wird. Unverständnis von Seiten des Publikums allein macht Musik weder gut noch schlecht.

Eine Fragestellung bleibt noch offen: Aufgrund der Schärfe der Kritik, die nicht nur Rachmaninoff durch Adornos, Rummenhöllers und Kellers Aussagen zuteil wird und sich im Wesentlichen auf die Angemessenheit der Kompositionen vor ihrem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund bezieht, kann der Schluss gezogen werden, dass bei jenen auch auf persönlicher Ebene eine ablehnende Haltung dem Musikkonsum beispielsweise der Musik Rachmaninoffs gegenüber besteht.

Das aber wirft eine generelle Frage auf: Wenn Fachliches und Persönliches wie hier eine Synthese eingehen, dürfen die Kritiker und diejenigen, die sich ihnen anschließen, dann überhaupt Musik um ihrer selbst willen genießen, die nicht absolut neu oder vielleicht sogar älter ist, als diejenige von Rachmaninoff, ohne dadurch unglaubwürdig zu erscheinen, es sei denn sie täten es aus einem allgemeinen kulturellen Interesse heraus? Denn wenn beispielsweise die oben angeführten Aussagen Schönbergs und Stockhausens oder die in der Einleitung angesprochene Forderung Rummenhöllers, dass Musik sagen müsse, „was ist“ (wovon er Rachmaninoffs Musik ausschließt) als Maximen für die heutige Musikproduktion gelten würden, dürfte konsequenterweise außer zu Dokumentationszwecken z. B. die Musik von Beethoven, Mozart, Schönberg oder von Komponisten, die beispielsweise um 1950 gewirkt haben, nicht mehr aufgeführt werden, in jedem Fall aber gegenüber der Musik irgendeines anderen Komponisten, was ihre Aufführung anbelangt, nicht aus dem Grund heraus bevorzugt werden, dass sie zu ihrer Zeit innovativer als andere Musik gewesen ist oder den Zeitgeist einer vergangenen Epoche besser reflektiert hat.

Ansonsten wäre für die Reproduktion von Musik der Vergangenheit ein universeller Standpunkt einzunehmen, der andere Kriterien als den des Wegweisenden oder den der Aktualität von Musik berücksichtigt, denn schließlich kann auch die Musik der letzten Jahrhundert nicht mehr mit den Ohren der damaligen Zeit gehört werden: Musik von Bach, Mozart, Puccini, Rachmaninoff, Schönberg, Maderna usw. wäre aufgrund dieser Feststellung auf gleicher Ebene lediglich nach ihrer Wirkung, Aussagekraft, Schlüssigkeit und ähnlich absoluten Kriterien zu hören und zu beurteilen, unabhängig von zeitbezogenen Fragestellungen, und stünde geschlossen als alte Musik der neuen gegenüber.

Als Konsequenz aus den vorher aufgeführten Punkten ergibt sich: Eine weitgehend objektive (oder besser: intrasubjektive) Musikwissenschaft sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des Stilpluralismus ist, den es nicht nur aus musealen Motiven heraus, sondern vor allem zur Objektivierung musikgeschichtlicher Sachverhalte und kultureller Zusammenhänge zu untersuchen gilt. Sie sollte zwar Weichenstellungen in der Musikgeschichte, die mit Innovationen einhergehen, aufzeigen, sie aber als reine Wissenschaft zunächst möglichst wertneutral analysieren, dann erst reflektieren, einordnen und bewerten, wobei auch die Bewertungskriterien wiederum einer ständigen Reflexion unterworfen sein sollten. Wenn der Fortschrittsgedanke zur Zeit der Entstehung zum Beispiel der Études-Tableaux in Russland nach der Jahrhundertwende noch vorherrschender ideologischer Ansatz gewesen ist, muss Musik der damaligen Zeit heute nicht mehr notwendigerweise auf der Grundlage diese Ansatzes untersucht und bewertet werden. So könnte auch im deutschsprachigen Raum nicht nur Rachmaninoffs Musik in der Musikwissenschaft rehabilitiert bzw. entdeckt werden.

[i]             Vgl. u. a. M. Biesold, Sergej Rachmaninoff 1873-1943 – zwischen Moskau und New York, Weinheim 1991, S. 399.

[ii]            Vgl. u. a. ebd., S. 362 / J. Yasser, Progressive Tendencies in Rachmaninoff’s Msuic, in: Tempo XXII, Winter

1951/52, S. 11.

[iii]            Vgl. Biesold, a.a.O., S. 248.

[iv]           Vgl. P. Rummenhöller, Zum Warencharakter in der Musik – Anaylse von Rachmaninoffs Prélude op. 32 Nr. 1, in : Zeitschrift für Musiktheorie IV, 1973, S. 30 f.

[v]            Vgl. Biesold, a.a.O., S. 248.

[vi]           Ebd., S. 248.

[vii]           Zit. nach Chr. v. Blumröder, Der Begirff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert, Diss., München 1981, S. 8.

[viii]           Zit. nach v. Blumröder, ebd., S. 11.

[ix]           Vgl. ebd., S. 7 ff.

[x]            Fortschritt, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon IX, Mannheim 1973, S. 194.

[xi]           J. Piersig, Das Fortschrittsproblem in der Musik um die Jahrhundertwende, Regensburg, 1977, S. 35.

[xii]            Vgl. v. Blumröder, a.a.O., S. 21.

[xiii]          Zit. nach v. Blumröder, ebd., S. 47.

[xiv]          G. Dietel, Musikgeschichte in Daten, Kassel 1994, S. 732 f.

[xv]          Z. B. durch J. Piersigs Buch: Das Fortschrittsproblem…, a.a.O.

[xvi]          Zit. Nach P. Hamm, Abglanz der Ewigkeit, in : Schallplattenbeiheft zu Arbos von Arvo Pärt mit dem Hilliard Ensemble (ECM Records 831 959-2), S. 6.

[xvii]       Vgl. z. B. Rummenhöller, a.a.O., S. 30.

[xviii]      Zit. nach v. Blumröder, a.a.O., S. 106

[xix] Zit. nach v. Blumröder, ebd., S. 129.

[xx] In: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften XII, hrsg. v. R. Tiedemann, Ffm. 1975

[xxi] Vgl. ebd., S. 91.

[xxii]       Zit. Nach ivan Eröd, Neuer Wein in alten Schläuchen, in: harmonik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Cl. Ganter, Wien 1993.

[xxiii]        K. Stockhausen zit. nach v. blumröder, a.a.O., S. 129.

[xxiv]      Vgl. R. Stephan, Expressionismus, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart III, Kassel 1995, S. 249 / Rummenhöller, a. a.O., S. 30

[xxv]         Zit. nach: Entwicklungswege der sowjetischen Musik, hrsg. v. A. I. Schaverdjan, Moskau 1948, S. 24, ausschnittsw. abgedr. in: Goyowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Regensburg 1980, S. 348 ff.

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